Gescheiterte Suizidhilfegesetze – was nun?
Analyse der Abstimmung im Bundestag
von Gita Neumann
Im Bundestag ist eine liberale Regelung der ärztlichen Suizidhilfe ebenso gescheitert wie der Gegenentwurf, der diese wieder im Strafgesetzbuch verankern wollte. Was bedeutet die Abstimmung und welche Konsequenzen hat sie?
Bei der Bundestagsabstimmung am 6. Juli 2023 zeigte die hohe Beteiligung von 690 Abgeordneten direkt vor der Sommerpause, wie ernst es allen mit einer gesetzlichen Klärung war. Knapp 590 Abgeordnete, also 80 % der Parlamentarier*innen, stimmten entweder für den einen oder für den anderen Gesetzentwurf. Der sogenannte Fraktionszwang war aufgehoben. Eine verschwindend geringe Zahl von jeweils unter zwei Dutzend Stimmen enthielt sich, wie das Abstimmungsergebnis zeigt. Erstaunlich ist daher die Analyse des Zentralrats der Konfessionsfreien: „Die Mehrheit der Abgeordneten hat offenbar verstanden, dass die Suizidhilfe momentan sehr gut geregelt ist“ – schließlich habe er, der Zentralrat, die Abgeordneten mehrfach dazu aufgerufen, kein Gesetz zu erlassen, „damit der freiheitliche Geist des Urteils vom Bundesverfassungsgericht voll erhalten“ bleibe. Hingegen analysiert die Humanistische Union zutreffend: Den Stimmverhältnissen sei zu entnehmen, dass es die AfD-Fraktion war, die letztendlich beide Entwürfe „zu Fall gebracht hat“. Sie, die in keine Beratung der interfraktionellen Initiativen eingebunden war, verweigerte sich blockartig beiden Gesetzentwürfen mit einem „Nein“.
Katastrophe wurde abgewendet – Verunsicherung bleibt
Die Unionsabgeordneten stimmten nahezu geschlossen für einen neuen (vom Bundesverfassungsgericht 2020 gekippten) § 217 StGB, wonach Suizidhelfer*innen (von Ausnahmen vor allem bei psychiatrischer Begutachtung und weiteren Hürden abgesehen) bis zu drei Jahre Gefängnis drohen. Diese Abstimmung scheiterte knapp. Von den 363 mit „Nein“ und den 23 mit „Enthaltung“ stimmenden Parlamentarier*innen hätten nur rund 30 auf ein „Ja“ umschwenken müssen, und die Mehrheit für eine neue Strafbarkeit wäre erreicht gewesen (303 Abgeordnete hatten dem Vorschlag zugestimmt). Diese Katastrophe mit langfristig fatalen Auswirkungen ist ausgeblieben.
Es bleibt allerdings eine große Verunsicherung für hilfsbereite Ärzt*innen, die nicht wissen, ob und wann eine Strafverfolgung auf sie zukommt. Karl Lauterbach gehörte als einziges Regierungsmitglied zu den Initiator*innen des liberalen Gesetzentwurfs, der auf jegliche Kriminalisierung verzichtete. Der Bundesgesundheitsminister kommentierte: Durch die Ablehnung bestehe zwar „keine komplette Rechtsunsicherheit“, es sei aber nicht klar, wie sich die Situation jetzt für Ärzt*innen darstelle. Er gehe davon aus, dass die offenen Fragen in Zukunft von Gerichten geklärt werden müssen. In vielen Medienkommentaren war von einer „Grauzone“ die Rede.
Jährlich sind es nur ein paar hundert, in der Regel gebildete und gut situierte Betroffene, die ihr Recht auf selbstbestimmtes Sterben so auszuüben vermögen, wie es das Bundesverfassungsgericht 2020 statuierte.Weiterhin können also de facto nur sehr wenige mit Suizidhilfe rechnen,was im breiten Konsens Ärztekammerfunktionär*innen, Kirchen sowie palliativmedizinische und psychiatrische Fachgesellschaften so beibehalten wollten. Auf der anderen Seite reagierten ebenso Suizidhilfevereine auf den bleibenden Status quo öffentlich mit „Erleichterung“, die ja damit gut leben und umgehen können aufgrund ihrer Kompetenzen, Rechtsanwält*innen, jahrelangen Erfahrungen und zu erzielenden Einnahmen.
Die Medizinethikerin Prof. Bettina Schöne-Seifert befürchtet, durch die jüngsten „rechtspolitischen Kontroversen“ und den „ethischen Gegenwind von vielen Seiten“ sei die Bereitschaft von Ärzt*innen „vielleicht noch geringer geworden“, sich Anfeindungen auszusetzen. „Nur privilegierte Menschen, die Organisationen bezahlen können oder Arztfreunde haben, finden zuverlässig einen Weg zu Suizidhilfe.“
Leitender Kriminalkommissar besorgt über willkürliche Ermittlungen
Vor allem bleibt mangels konkreter gesetzlicher Vorgaben ungeregelt, welche Kriterien zur Bestimmung eines freiverantwortlichen Willens und zur Dokumentation zu gelten haben. In einem Fall etwa wurde ein Arzt von der eintreffenden Polizei gefragt, warum er keine Videoaufnahme vom Tatgeschehen gemacht habe; ein anderer Arzt sieht aufgrund der Anschuldigung, auf ein psychiatrisches Gutachten verzichtet zu haben, im November seinem Prozess wegen Totschlags entgegen.
Zudem könnte es Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz geben – in der gesetzlichen Neuregelung war vorgesehen, dort geeignete Mittel wie vor allem Natrium-Pentobarbital zum humanen Tod verfügbar zu machen.
Je nachdem, wo man lebt und welche Haltung ermittelnde Beamt*innen oder – nach Anzeigen – die Staatsanwaltschaften einnehmen, kann von anerkannter legaler Suizidhilfe ausgegangen werden oder aber von „Tötung in mittelbarer Tatherrschaft“ bei Verdacht auf mangelnde Freiverantwortlichkeit des*der Suizident*in. Der stellvertretende Dienststellenleiter eines Kriminalkommissariats für Todesermittlung, dessen Name hier ungenannt bleibt, sagte der Autorin: „Die nicht geregelten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes machen mir Angst für alle, die sterbewilligen, kranken Menschen bei der Selbsttötung assistieren. Faktisch müssen wir immer mehr im Hinblick auf die Freiverantwortlichkeit ermitteln. Auch wenn ein Verfahren gut ausgeht: Bis dahin möchte ich nicht in der Haut derjenigen stecken, die Hilfe geleistet haben.“
Anzunehmen wäre, dass aufgrund der Bundestagsabstimmung die Aufmerksamkeit für einzuhaltende Sorgfaltskriterien wächst – die jetzt willkürlich interpretierbar bleiben! Wie viele Ärzt*innen, die den Weg einer Suizidbegleitung für ihre Patient*innen durchaus zu gehen bereit sind, werden sich einem solchen – wenngleich geringen, aber nachhaltig beeinträchtigenden – Risiko aussetzen wollen?
Humanistischer Verband Deutschlands und andere bedauern Scheitern des liberalen Entwurfs
Derzeit liegen Vorgespräch, Dokumentation, ärztliche Verschreibung und/oder direkte Suizidbegleitung organisatorisch in den Händen jeweils ein und desselben Sterbehilfevereins, was möglichst zu überwinden sei, wie auch der Kriminalbeamte meint. Er fügt hinzu: „Mir wäre als Ermittler ein Gesetz lieber, welches vorgesehen hätte, dass eine unabhängige staatliche Stelle zur Willensentscheidung beigetragen hat.“
Im Vorfeld der Abstimmung wandten sich im humanistischen Magazin diesseits.de die namhaften Medizinprofessoren Gian D. Borasio und Ralf Jox „angesichts der nachgewiesenen Meinungspluralität in der deutschen Ärzteschaft“ gegen den jüngst erfolgten Boykottaufruf der Bundesärztekammer: „Ärztinnen und Ärzte, die aus einer Gewissensentscheidung heraus bereit sind, ihren Patienten in schwersten Notlagen Suizidhilfe zu leisten, brauchen vor allem eins: Rechtssicherheit. Diese wird es ohne ein Gesetz nicht geben.“
Vertreter*innen des entsprechenden liberalen Gesetzes waren Katrin Helling-Plahr (FDP), Renate Künast (DIE GRÜNEN), Helge Lindh (SPD) und Petra Sitte (DIE LINKE). Dr. Sitte vertrat leidenschaftlich das darin vorgesehene staatlich finanzierte Beratungsnetz in ihrer Bundestagsrede: „Eine umfassend angelegte und lebensweltlich orientierte Beratung […] ist ergebnisoffen und damit suizidpräventiv zugleich. […] Die Lebenssituation, Unterstützungs- und Betreuungsangebote, Hilfsangebote, Handlungsalternativen zur Selbsttötung sollten besprochen werden. […] Sollte sich während der Beratung zeigen, dass man psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe braucht, dann ist diese aus dieser Beratung heraus selbstverständlich zu vermitteln. […] Dieses Beratungsangebot ist für jeden zugänglich, niedrigschwellig und steht jedem unentgeltlich offen.“
Dass dieser Gesetzentwurf von der Helling-Plahr/Künast-Gruppe, der „wirklichkeitsnah und sorgfältig ausgearbeitet“ sei, mit nur 286 Ja-Stimmen die Mehrheit verfehlte, bedauert Prof. Schöne-Seifert: „Beide Ziele, um die es hier gehen muss, wären befördert worden: einerseits Suizidhilfe für die Unterstützerseite erkennbar rechtssicher und praktikabel zu machen und andererseits auf Patientenseite die Freiverantwortlichkeit einer Suizidentscheidung zu sichern.“
Ausblick auf konzeptionelle Weiterentwicklung
Das Konzept zur ermöglichten Freitodhilfe für viele Betroffene mit Absicherung ihrer Ärzt*innen wurde nachdrücklich vom Humanistischen Verband Deutschlands unterstützt. Sein Bundesvorsitzender Erwin Kress sagte dazu: „Wir werden den ergebnisoffenen Beratungsansatz weiterverfolgen. Dabei bedauern wir, wie andere Mitstreiter*innen auch, dass noch zu viele Bundestagsabgeordnete die Selbstbestimmung am Lebensende durch Regelungen im Strafrecht einschränken wollen, weil sie Suizidprävention und Suizidbeihilfe nicht sauber auseinanderhalten. Hier tut weitere Aufklärung not.“
Immerhin ist die in der Debatte massiv geforderte Voraussetzung, dass es zunächst um die Suizidprävention gehen müsse, erst einmal erfüllt: Das Parlament verabschiedete am Abstimmungstag mit überwältigender Mehrheit einen Entschließungsantrag, wonach die Bundesregierung bis Mitte 2024 einen Entwurf unter anderem für einen deutschlandweiten Präventionsdienst vorzulegen habe. Dieser soll rund um die Uhr für Menschen mit Suizidgedanken oder deren Angehörige online und telefonisch erreichbar sein.
Alena Buyx, Vorsitzende des Ethikrats, plädiert dafür, die parlamentarischen Beratungen zur Regelung der Suizidhilfe neu aufzunehmen: „Es wird zum einen darum gehen, dass man gute Beratungskonzepte hat. Wie aufwendig soll die Beratung sein? Wer soll diese Beratung vornehmen? Soll es da Wartefristen geben oder nicht? Soll es mehrere Termine geben?“
Und wie soll die Zusammenarbeit aussehen zwischen diesen Beratungsstellen, wie sie im liberalen Gesetz für einen freiwillensfähigen Suizid vorgesehen waren, und einem „Präventionsdienst“, der Selbsttötungen von akut verzweifelten oder schwer psychisch kranken Menschen sinnvollerweise verhindern will? Der Humanistische Verband Deutschlands wird eine konzeptionelle Weiterentwicklung durch praktische und theoretische Beiträge fördern.
Autorin dieses Beitrags ist die Psychologin und Medizinethikerin Gita Neumann. Wenn Sie ihre Analyse wertschätzen, können Sie eine anerkennende Zuwendung – gern mit einer persönlichen Nachricht oder Anfrage an sie – hier direkt vornehmen: www.patientenverfuegung.de/spenden