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Sterbehelfer Dr. Spittler und Dr. Turowski erneut vor Gericht: Zur Bedeutung von Präzedenzfällen beim BGH 

13. Mrz 2024

Von Gita Neumann

Die beiden Sterbehelfer Dr. Spittler und Dr. Turowski stehen erneut vor Gericht. In beiden Fällen lautet die Anklage, sie hätten als Ärzte jeweils bei einer schwer psychisch kranken Person unzulässige Suizidhilfe geleistet: Dr. Spittler wurde Anfang Februar zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und gegen Dr. Turowski läuft seit 20. Februar ein Gerichtsverfahren. Werden die beiden – wie bereits 2019 – gemeinsam beim Bundesgerichtshof (BGH) Rechtsgeschichte schreiben?

Das aktuelle Urteil des Landgerichts Essen vom 1. Februar 2024 gegen den Psychiater und Neurologen Dr. Johann Spittler (82) ist aufgrund seines Revisionsantrags noch nicht rechtskräftig. Es lautet, er hätte bei dem arbeits-, beziehungs- und mittellos gewordenen Oliver H. nicht hinreichend beachtet, dass es diesem aufgrund einer früher manifesten paranoiden Schizophrenie an freier Willensfähigkeit mangelte. Spittler hätte dem Suizidwilligen keinesfalls die tödliche Infusion anlegen dürfen, die dieser dann eigenhändig in Gang setzte.

Unabhängig davon steht knapp drei Wochen später, seit dem 20.Februar, der ehemalige Hausarzt und Internist Dr. Christoph Turowski(74) vor dem Berliner Kriminalgericht. Auch er ist, genau wie Spittler, wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft angeklagt  der selbst im minder schweren Fall mit Freiheitsentzug von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft wird. Im Verfahren gegen Turowski geht es um seine Assistenz zur Selbsttötung der Studentin Isabell R., die seit gut 15 Jahren trotz zahlreicher Therapiemaßnahmen dauerhaft an schweren Depressionen gelitten hatte.

Nach einer bahnbrechenden Liberalisierung der Suizidhilfe durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) Anfang 2020 ist die ärztliche Praxis weiterhin, auch durch strafrechtliche Grenzen, stark eingeschränkt und zunehmend verunsichert. Laut BVerfG gilt die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung nur bei autonomer Suizidentscheidung des Sterbewilligen – diese setze „zunächst die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können“ (Rand-Nr. 241 im Urteilstext des BVerfG).

Die Formulierung „setzt zunächst die Fähigkeit voraus ….“ macht deutlich, dass ohne diese kognitive und handlungsfähige Dimension ein geäußerter Suizidwille nicht als Ausdruck eines ansonsten grundgesetzlichen Persönlichkeitsrechts gelten könnte. Dann würde es anschließend auch gar nicht mehr auf weitere Faktoren der Freiverantwortlichkeit ankommen, als da sind: Informiertheit über Alternativen zum Suizid, Dauerhaftigkeit eines ernsthaften Wunsches, aus dem Leben zu scheiden, und dazu nicht von anderen genötigt worden zu sein.

Diskriminierung von klardenkenden depressiv Erkrankten?

Doch was ist mit Menschen mit einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Vorgeschichte, mit immer wieder auftretenden depressiven oder psychotischen Episoden oder mit einer altersbedingten Demenz im Anfangsstadium, die dabei ihren Sterbewunsch sehr deutlich und nachhaltig äußern können? Die in Deutschland tätigen Sterbehilfeorganisationen schließen diesen Personenkreis von ihren kostenpflichtigen Leistungen eines begleiteten Freitods aus, wohl um Unannehmlichkeiten zu vermeiden und ihr öffentliches Image aufrecht zu erhalten. 

Solchen schwerstleidenden Suizidwilligen, denen entsprechende Hilfe verweigert wird, haben sich die Ärzte Spittler und Turowski – in beiden Fällen kostenfrei und aus Mitgefühl – angenommen und dafür einiges riskiert. Turowski betont sein Anliegen, dass es keine Diskriminierung von psychisch kranken oder eingeschränkten, im Kopf jedoch völlig klaren Menschen geben dürfe. Dabei handelt es sich um eine Grauzone. Laut einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats schließen „psychische Störungen“ die Fähigkeit zu einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung „nicht automatisch“ aus. Gerichte haben nun zu prüfen, ob im Einzelfall Suizidhilfe bei psychisch Erkrankten gegen einen Facharztstandard zur Gewährleistung ihrer Freiverantwortlichkeit verstoßen hat – was zurzeit anhand von psychiatrischen Gutachten erfolgt. Um eine Klärung dieses Umstandes herbeizuführen, wollen Spittler und Turowski gegebenenfalls ihre Präzedenzfälle vor dem Bundesgerichtshof für Strafsachen verhandeln lassen. Dabei sind sie keine Unbekannten und stehen nicht zum ersten Mal zu zweit vor diesem Gericht.  

Beide sorgten 2019 für die Abschaffung eines paradoxen Verbotskonstrukts

Es mutet fast skurril an, dass sich eben dieselben ärztlichen Sterbehelfer vor über vier Jahren schon einmal gemeinsam vor dem 5. Strafsenat des BGH in der Außenstelle in Leipzig zu verantworten hatten (siehe Foto). Dort wurden die staatsanwaltschaftlichen Revisionen gegen ihre Freisprüche, wie sie von den Vorgerichten ausgesprochen waren (im Berliner Fall bzgl. Turowski und im Hamburger Fall bzgl, Spittler) zurückgewiesen, ihre „Unschuld“ im zusammengelegten BGH-Verfahren mit Urteil im Juli 2019 somit bestätigt. Das heißt, die Begleitung eines Suizidenten bis zum Todeseintritt wurde dadurch endlich von dem aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Verbotskonstrukt der sogenannten Garantenpflicht bei Suizid befreit. 

Die begangenen „Untaten“ der beiden Ärzte hatten bei den vorinstanzlichen Verfahren schon so lange zurückgelegen, dass der erst 2015 eingeführte (und dann 2020 wieder gekippte) § 217 Strafgesetzbuch nicht zum Tragen kommen konnte. Vielmehr waren damals bei den Landgerichten ihre Suizidbegleitungen als Unterlassungsdelikt zur Anklage gebracht worden. Dieser bis dato rechtsgültige, aber paradox anmutende Tötungs-Tatbestand datierte aus dem Jahr 1984 und sah vor, dass jeder Suizid mit einem Unfall gleichzusetzen wäre. Danach galt, die zwar damals schon vielfach kritisierte, aber bis zum Leipziger BGH-Urteil 2019 noch gängige Rechtauffassung: Auch bei freiverantwortlichen Suizident*innen ginge nach eingetretener Bewusstlosigkeit die sogenannte Tatherrschaft auf denjenigen oder diejenige über, der*die anwesend geblieben war und (dem Willen des*der Sterbenden gemäß!) nichts zu dessen Rettung unternommen hatte. Dies stellte insbesondere für Ärzt*innen qua ihrer sogenannten Garantenpflicht ein Tötungsdelikt durch Unterlassung dar. 

Die Bestätigungen der beiden Freisprüche von Turowski und Spittler durch den BGH 2019 stieß auf teils massive Kritik von Suizidgegner*innen, vor allem aus Funktionärskreisen der Ärzt*innenschaft. So erklärte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt in einer Stellungnahme zu diesem Urteil, es sei in seinen Auswirkungen „fatal und falsch“. Reinhardt betonte, dass die Beteiligung an Selbsttötungen niemals zur Aufgabe von Ärzt*innen gehören könne, da diese ausschließlich darauf gerichtet sei, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Als Beistand für Sterbende stelle die Palliativmedizin „eine adäquate Form der ärztlichen Hilfe“ dar, um „Menschen mit schweren Erkrankungen Zukunftsängste zu nehmen“.

Bei Dr. Turowski ging es damals um eine langjährige Patientin mit chronisch unerträglichem Darmleiden und bei Dr. Spittler um zwei über 80-jährige Hamburger Seniorinnen, Mitglieder des Vereins SterbehilfeDeutschland. Alle drei Suizidentinnen litten an unheilbaren Erkrankungen, die ihre Lebensqualität dauerhaft und teils sehr stark einschränkten, ohne dass sie lebensbedrohlich gewesen wären. Ein absehbarer tödlicher Verlauf, der Voraussetzung für Palliativmedizin ist, lag nicht vor – und diese hätte ihre chronischen Leiden auch nicht bessern können. Sie nahmen die tödliche Dosis der Medikamente bewusst und freiwillensfähig selbst ein. Der BGH urteilte 2019, die „Angeklagten waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet“ und eine in „Unglücksfällen obliegende Hilfspflicht“ wäre nicht verletzt worden. Dies gelte – mit Hinweis auf das Gesetz zur unbeschränkten Verbindlichkeit vom Patientenverfügungen – unabhängig von Art oder Stadium einer Erkrankung. Entscheidend sei vielmehr, dass die Suizidentinnen sich ihren Freitod gut überlegt hatten und ihre Entscheidung nicht von einer psychischen Krankheit getrübt war.   

Freiverantwortlichkeit als Herausforderung fünf Jahre später vor Gericht 

Es ist der Courage von Spittler und Turowski zu verdanken, dass der BGH 2019 endlich klarstellte, dass Ärzt*innen bei Menschen, die mittels ihrer Assistenz Suizid verüben, bei ihnen verbleiben dürfen. Der Vorsitzende Richter verwies damals allerdings auf die zentrale Voraussetzung, welche dann 2020, also ein Jahr später, auch das Bundesverfassungsgericht übernahm: „Entscheidend ist die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses“. Ob diese zugrunde liegt und welche Standards dafür gelten sollen, steht nun bezüglich einer Öffnung der Suizidhilfe auch für psychisch kranke oder depressive Menschen erstmalig vor Gericht zur Debatte. In Deutschland ist ärztliche Hilfe zur Selbsttötung so weit legal, als ihr Wunsch dazu Ausdruck des freien Willens ist. Doch dies kann von Staatsanwaltschaften bezweifelt oder vor Gericht bestritten werden. Wenn es dann um die Entscheidung für oder gegen ein Totschlagsdelikt geht, ist strittig, welche (psychiatrische) Begutachtung dazu den Ausschlag geben soll. 

Spittler und Turowski sind seit 2019 nicht mehr dieselben. Der eine ist vom Hausarzt – nach eigenen Angaben – circa 100-fach zum Suizidhelfer fast ausschließlich für die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) geworden. Der andere avancierte vom Psychiater, der vor allem Gutachten im Auftrag aller drei in Deutschland tätigen Sterbehilfeorganisationen verfasste, spätestens durch die Fernsehdokumentation Mein Tod. Meine Entscheidung? zum bekanntesten ärztlichen Suizidhelfer Deutschlands. Die Approbation von Dr. Turowski ruht bis zu seinem rechtsgültigen Urteil. Im Fall Dr. Spittler ist bezüglich des Haftbefehls vom Landgericht Essen dessen Vollzug ausgesetzt mit der Auflage, dass er auf eine ärztliche Tätigkeit der Gutachtenerstellung und der Suizidhilfe verzichtet. Weiteren Kolleg*innen drohen Ermittlungsverfahren mit gefürchteten Praxisdurchsuchungen. Es scheint, dass entschiedene Gegner*innen des Suizids durch überhöhte Anforderung an die Freiverantwortlichkeit nunmehr versuchen, durch ein neues Rechtskonstrukt die Strafbarkeit der Hilfe dazu wieder einzuführen. 

In beiden Fällen waren die angeklagten Ärzte – aus Mitgefühl und ohne von den finanzschwachen Suizident*innen eine Bezahlung zu erwarten – eigeninitiativ und ohne Rücksprache mit einem Sterbehilfeverein tätig. Der Präsident der DGHS, RA Robert Roßbruch, erklärt dazu: „Die Verfahren beweisen meines Erachtens, dass die bestehenden Strafgesetze ausreichen, um eine Grenze zu ziehen, bis zu der geholfen werden darf“. Spittler und Turowski hätten nun mal gegen einen verpflichtenden spezifischen DGHS-Standard eines „Vieraugenprinzips“ verstoßen, der sich als unanfechtbar bewährt hätte. Dieser gilt bei der DGHS jedoch nicht etwa für zwei Ärzt*innen, sondern in den von dieser beauftragten Teams jeweils für einen*eine Mediziner*in plus eine*n Jurist*in. Dabei bleibt die tragende Rolle von Rechtsanwält*innen bei den verpflichtenden Erstgesprächen mit suizidwilligen Mitgliedern jedoch kaum erklärlich und etwas undurchsichtig. 

Es bleiben Fragen: Kann es gut sein, wenn wenige Ärzt*innen vielhundertfach Suizidhilfe im organisierten Auftrag durchführen – und Kolleg*innen in bestehenden Behandlungssituationen ihren auch Schwerstkranken eine entsprechende Assistenz demgegenüber vorenthalten? Zum anderen: Sollte nicht – zumindest bei relevanten psychischen Störungen beziehungsweise mit Ausnahme bereits dem Tode nahen Patient*innen – gesetzlich ein Vieraugenprinzip eingeführt werden, wobei die zweite professionelle Person allerdings keinen psychiatrischen und erst recht keinen juristischen Hintergrund haben müsste? Zu guter Letzt: Soll in Deutschland die Suizidhilfe weiter fast ausschließlich in den Händen von Sterbehilfeorganisationen verbleiben, die sich eine Zielgruppe möglichst zahlungskräftiger, geistig topfitter und willensstarker Klient*innen aussuchen, um ihre Angebote als die einzig bewährten und völlig problemfreien öffentlich anpreisen zu können? 

Anmerkung: In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es im drittletzten Absatz: „Beiden [Ärzten] wurde inzwischen die Approbation entzogen (das heißt, sie dürfen unter dem Titel Arzt keine Tätigkeit mehr ausüben).“ Dies war ungenau, wir haben es berichtigt.


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