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Die verschwiegene Seite – Stellungnahme “Patientenverfügung und Organspende?” von Meinolfus W. M. Strätling

5. Mai 2013

Die verschwiegene Seite – In dieser Filmdokumentation berichtet eine Familie über tiefgreifende Konflikte, die durch eine stellvertretende Zustimmung zur Organentnahme entstanden sind.

http://www.initiative-kao.de/kao-aktuell-10-12-10-bericht-die-verschwiegene-seite-organspende-hirntod.html

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Patientenverfügung und Organspende ? 

In der Regel nicht vereinbar !

Eine Kritik des jüngsten „Arbeitspapiers“ der Bundesärztekammer zur „Vereinbarkeit“ der Patientenverfügung und der Organspende 1)

 

 

Zusammenfassung:

Mit ihrem jüngst vorgelegten „Arbeitspapier“3) reagiert die Deutsche Bundesärztekammer (BÄK) auf eine aktuelle Debatte, die in Deutschland v.a. seit dem vergangenen Jahr geführt wird. In dieser wird verbreitet behauptet, die Zunahme von Patientenverfügungen sei ein „Hindernis für die Organspende“.4) Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der Stellungnahme, die Möglichkeiten der etwaigen „Vereinbarkeit“ der Patientenverfügung einerseits und der Organspende andererseits zu untersuchen. Auch praxisorientierte Empfehlungen hierzu möchte der zuständige Ausschuss der Kammer zur Verfügung zu stellen. Dies ist anerkennenswert. Das entscheidende Problem hierbei ist allerdings, dass das Arbeitspapier damit Zielkonflikte zu vereinbaren versucht, die schon in der Theorie kaum miteinander zu vereinbaren sind. Damit ergeben sich in der Praxis noch sehr viel häufiger Konstellationen, in denen dieses Spannungsverhältnis nicht schlüssig aufgelöst werden kann. Angesichts der faktischen Unmöglichkeit, eine solche „Quadratur des
Kreises“ zu erreichen, ist wohl ein gewisses Maß an „Nachsicht“ mit der BÄK geboten und zu rechtfertigen. Ausgesprochen bedauerlich (und letztlich nicht akzeptabel) ist jedoch, dass die BÄK bei ihren Bemühungen wiederholt der Versuchung erliegt, Methoden und Argumente anzuwenden, die aus Sicht einer mit wissenschaftlichem und praxisorientiertem Anspruch betriebenen Ethik in der

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1) Vorläufige Übersicht: Aus Anlass der erheblichen Verunsicherung in der Öffentlichkeit und in der Praxis der Medizin, der Patienten-Beratung und der Rechtspflege, welche durch die aktuelle Debatte und das Arbeitspapier der Bundesärztekammer zum Verhältnis von Patientenverfügung und Organspende ausgelöst wurde.
2) PD Dr. med. Meinolfus „Wulf“ M. Strätling ist Facharzt für Anästhesiologie und klinischer Medizinethiker. Er war u.a. maßgeblich an der Entwicklung der jetzigen Rechts- und Gesetzeslage in Deutschland zu Patientenverfügungen und Entscheidungen am Lebensende beteiligt. Ärztlich ist er tätig am Universitätsklinikum von Wales in Cardiff, Großbritannien. Zugleich ist er Dozent für Anästhesiologie sowie für die Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an den Universitäten von Lübeck und Cardiff. Kontakt: wulf.stratling@wales.nhs.uk.
3) Deutsche Bundesärztekammer (Hrsg.), Arbeitspapier zum Verhältnis von Patientenverfügung und Organspendeerklärung.
Dtsch Arztebl 2013; 110(12): A-572- 574.
4) Vgl exemplarisch.: Ärzte Zeitung, 17.10.2012: Weniger Organspenden – Das Problem Patientenverfügung. http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/organspende/article/824317/weniger-organspendenproblem-patientenverfuegung.html. (Zugriff: 1. Mai 2013).

 

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Medizin ungeeignet sind: Etliche ihrer Erklärungen und Empfehlungen sind zumindest missverständlich, widersprüchlich und damit potenziell fehlleitend. Dies gilt insbesondere für Patienten mit Patientenverfügungen sowie übereinstimmend aus medizinischer, rechtlicher und ethischer Sicht.
Im Ergebnis liefert die BÄK damit eine hochproblematische „Scheinlösung“:
Diese versucht lediglich einen Anschein zu wahren, man achte und wahre die Patientenverfügung (Patientenverfügung) und ihr zugrunde liegenden Patienteninteressen [z.B. das Recht der Selbstbestimmung, einer (rechtlich bindenden) Vorausverfügung sowie auf ein möglichst würdevolles Sterben)]. Faktisch propagiert die BÄK allerdings eine mit fragwürdigen Argumenten „bemäntelte“ „Card Blanche“:
Ihre „Haupt-Empfehlung“ bzw. offensichtliche Haupt-Intention ist, die Patienten mögen doch bitte ihre Patientenverfügung mit der ausdrücklichen Zustimmung zur Organspende kombinieren (obwohl beide – wie sie selbst einräumt – in deutlichem Widerspruch zueinander stehen). Sollte diese (sicher „wohlmeinende“) Empfehlung von den Patienten und der Öffentlichkeit allgemein akzeptiert und umgesetzt werden, käme diese allerdings einem „ärztlichem Ermächtigungsgesetz“ doch zumindest sehr nahe. Mit einer solchen „kombinierten“ Verfügung können – (vorgeblich) im Namen der Organspende und ihrer wohlmeinenden Anliegen – das Rechtsinstitut der Patientenverfügung sowie sämtliche damit zusammenhängenden, individuellen Patienten- und Persönlichkeitsrechte in der Praxis komplett „ausgehebelt“ werden.
Vollkommen unabhängig davon, ob diese ernste „Nebenwirkung“ Seitens der Ärzteschaft beabsichtigt ist, billigend in Kauf genommen wird, oder vielleicht auch gar nicht erkannt und reflektiert wurde: Es ist sehr zu befürchten, dass dieser Vorgang, zumal in unserer zunehmend kritisch-sensibilisierten Öffentlichkeit, die ohnedies bereits stark angeschlagene Glaubwürdigkeit der Ärzteschaft (sowie großer Teile der Medizinethik) weiter beschädigen wird – gerade auch in der Frage der Organspende.
Tatsächlich deutet nämlich alles darauf hin, dass die empfohlene Einschränkung bzw. Aussetzung der Patientenverfügung objektiv überhaupt nicht nötig ist. Auch dass die „Risiken und Nebenwirkungen“ der empfohlenen Lösung nicht in ihrer vollen Tragweite und in Klarheit dargestellt werden, ist ein ernstes Versäumnis.
Fazit: Statt einer „Glaubwürdigkeitsoffensive“ durch eine grundsätzliche und wahrhaftige Neu-Ausrichtung der Diskussion und der Organspende-Praxis, perpetuiert die BÄK hier also die alten, gescheiterten „Rezepte“, die die Transplantationsmedizin in
die tiefe Glaubwürdigkeitskrise gestürzt haben, die sie gerade erlebt.5)
Empfehlungen für die Praxis:
Patienten, deren Angehörige, Stellvertreter sowie v.a. auch die breite Öffentlichkeit sind – im Rahmen einer ergebnisoffenen Beratung zur Patientenverfügung und / oder zur Organspende – ausdrücklich und differenziert auf die hier dargestellten Probleme
aufmerksam zu machen. Diese Darstellung muss deutlich darüber hinausgehen, was 

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5) Vgl. ergänzend: Strätling M. Organspende, Medizin und Ethik – Analyse einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise und der überfälligen Lehren, die aus dieser zu ziehen sind (2012 / 2013):

 

 

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die Bundesärztekammer vorschlägt.6) Ihnen eine unter ethischen, rechtlichen und medizinischen Kriterien angemessenen „Willensbildung“ zu ermöglichen, ist auf Grundlage des derzeit vorliegenden BÄK-Arbeitspapiers also leider sicher nicht möglich. Organisationen, die Informationsmaterialien oder Beratungen zur Patientenverfügung und / oder zur Organspende anbieten, ist dringend die Wahrung einer „kritischen Distanz“ gegenüber den medizinisch, ethisch und rechtlich fragwürdigen Empfehlungen der Bundesärztekammer anzuraten. Gleiches gilt für die „Aufklärungsmaterialien“, die Seitens der Krankenkassen verbreitet werden.
Auch Ärzten und Pflegenden ist derzeit (nicht zuletzt aus forensischen Gründen) dringend davon abzuraten, sich bei der Moderation der hier maßgeblichen Entscheidungsfindungsprozesse durch die Stellungnahme der BÄK leiten zu lassen oder sich ausdrücklich auf diese zu berufen. Potenziell drohen nach Einschätzung des Autors ansonsten u.a. ernste (z.B. auch straf- und zivil-) rechtliche Sanktionen [z.B.
aufgrund „fehlerhafter Willensbildung“, „eigenmächtiger Heilbehandlung“, (ggf. auch „vorsätzlicher“) „Körperverletzung“]. Vor allem aber auch das essentielle Vertrauensverhältnis in der (ggf. „erweiterten“) Arzt-Patienten-Beziehung könnte ernsthaften Schaden nehmen.

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6) Konkret bedeutet dies in der Praxis beispielsweise (s. auch unten): Patienten / Verfügende müssen zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt letztlich als Organspender in Betracht kommen werden, i.A. recht gering sein wird. Weiterhin sollten sie wissen, dass wenn sie ernsthaft eine Patientenverfügung mit tatsächlicher Bindungswirkung errichten wollen, sie in der Regel für eine Spende sog. „solider“ Organe (z.B. Herz, Lunge, Leber, Niere, Pankreas) im Rahmen der derzeitigen Transplantationspraxis in Deutschland ebenfalls nicht infrage kommen werden. Sonstige „Gewebespenden“ (z.B. Hornhaut, Knochen) sind meist möglich. Diese legitime, individuelle „Nichtverfügbarkeit“ ist aus ethischer, rechtlicher sowie – tatsächlich – auch aus (transplantations)medizinischer Sicht kein wirklich relevantes Problem.
Im Gegensatz zu dem derzeit verbreitet aufgebauten „öffentlichem Druck“ besteht hier also Seitens der Patienten weder objektiver „Argumentationsnotstand“, noch tatsächlicher „Rechtfertigungsbedarf“ [Vgl. unten; sowie: Strätling (Fn. 5)]. Nach den dem Verfasser bisher vorliegenden Informationen der meisten größeren Organisationen, die regelmäßig Beratungen zur Patientenverfügungen anbieten, kommen offenbar auch die weitaus meisten Verfügenden durchaus selbstständig zu dieser Schlussfolgerung – und schließen die Organspende per Patientenverfügung a priori aus.
Der Wunsch trotz Patientenverfügung eine Organspende ermöglichen zu wollen ist andererseits selbstverständlich ebenfalls legitim und achtenswert. In diesem Falle müssen sich die Patienten lediglich über ihre Prioritäten Klarheit verschaffen (eigenes, möglichst „friedliches“ Sterben vs. fremdnutzenorientierte Organspende). Sie sollten diese dringend eindeutig (bevorzugt in der Patientenverfügung) kommunizieren und dokumentieren. Diese Patienten müssen wissen, dass diese Entscheidung – schon angesichts der zumindest
relativen Begrenztheit der verfügbaren Organspender – eine erheblich erhöhte Wahrscheinlichkeit birgt, dass sich ihr Sterben damit für sie selbst (und v.a. auch für ihre Angehörigen) im Rahmen einer protrahierten sowie i.A. auch durchaus belastungsreichen intensivmedizinischen Behandlung vollziehen wird. Dies gilt zudem unabhängig davon, ob eine Organspende dann letztendlich auch durchgeführt wird, oder nicht. Weder sie selbst (noch i.A. ihre Angehörigen oder Stellvertreter) haben dann i.d.R. noch eine relevante Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme auf diese Abläufe.

 

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I. Vier medizinisch unbelegte, fragwürdige oder fehlerhafte
Empfehlungen der Bundesärztekammer:

1. Fragwürdige Grundannahmen: Schon die beiden Grundannahmen der Stellungnahme der BÄK halten einer objektiven Überprüfung nicht stand. Die erste davon ist offenkundig, dass die zunehmende Verbreitung der Patientenverfügung für die abnehmende Bereitschaft zur Organspende insgesamt (haupt- oder mit-) verantwortlich machen sei. Tatsächlich ist dies bisher eine empirisch vollkommen unbelegte „Vermutung“.7) Aus medizinischer Sicht ist diese zudem für die breite Mehrheit der theoretisch infrage kommenden Patientenkollektive auch praktisch nicht plausibel. Damit ist sie auch insgesamt eher unwahrscheinlich.
Die zweite fehlerhafte Grundannahme ist, dass Patientenverfügung und Organspendeerklärung „prinzipiell“ – also grundsätzlich – nicht im Widerspruch zueinander stünden. Auch diese Behauptung ist sowohl in der Theorie, als vor allem auch in der Praxis bestenfalls fragwürdig – was die Autoren des Arbeitspapiers auch selbst durchaus einräumen.
Zur Begründung:
Jährlich sterben in der Bundesrepublik Deutschland über 800.000 Menschen. Nach Angaben der für die Transplantationsmedizin zuständigen Organisationen versterben davon etwa die Hälfte (rd. 400.000) im Rahmen intensivmedizinischer Versorgung.
Aus medizinisch-empirischer, praktischer und v.a. medizinethischer Sicht ist schon aus diesem Befund ein erstes Zwischenergebnis abzuleiten, welches für die weitere Diskussion und Bewertung richtungsweisend und entscheidend ist:
Tatsächlich liegt damit in Deutschland nämlich die Quote der im „intensivmedizinischen Rahmen“ Sterbenden offenbar etwa doppelt so hoch, wie in den meisten anderen westlichen Ländern. Zugleich gibt es keine empirisch validen Hinweise darauf, dass in diesen anderen Ländern die medizinische Versorgung der Sterbenden schlechter sei. Stattdessen gibt es viele und sich weiter verdichtende
Indizien dafür, dass diese medizinisch und ethisch fragwürdige „Übertherapie“ am Ende des Lebens in Deutschland v.a. auch deswegen „angeboten“ und umgesetzt wird, weil sie ein sehr lukratives „Multimilliarden-Euro-Geschäft“ ist. Von diesem profitieren allerdings eigentlich nur die Leistungserbringer.8)
„Pointiert“ ausgedrückt: Es wird in Deutschland im internationalen Vergleich also unverändert eher besonders „brutal“ (i.S. von maximaltherapeutisch-invasiv) sowie besonders „sinnlos“-brutal gestorben (i.S. eines medizinisch objektiv nicht-existierenden
Nutzens für den betroffenen Patienten selbst).

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7) Aktuelle Hintergründe: Vgl. Fn. 4.
8) Aktuelle Hintergründe hierzu: Strätling M. Gesundheitsökonomische Aspekte bei Entscheidungen am Lebensende, Mythos Palliativmedizin, Klinische „Ethikberatung“ und Behandlungsbegrenzung bei schweren Gehirnschädigungen, MedR 2012; 30: 428 – 436.

 

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Dies belegt einmal mehr eindrucksvoll, wie medizinisch, ethisch und gesellschaftspolitisch hochvernünftig es ist, gerade auch mit Hilfe der Patientenverfügung Patientenrechte zu stärken, indem diese therapeutisch und diagnostisch fragwürdige sowie das Sterben eher nur noch zusätzlich belastende Übertherapie am Ende des Lebens verbindlich untersagen können. Von den rd. 400.000 „Intensiv-Sterbenden“ in Deutschland kommen – nach derzeitigem Stand der Erkenntnis sowie der gängigen Transplantationspraxis – letztlich überhaupt nur wenige Hundert (rd. 1%) als Organspender in Betracht. Insbesondere in Bezug auf die wirklich „knappen“ Organspenden (v.a. die „soliden“ Organe: z.B. Herz, Niere, Leber, Lunge, Pankreas) sind die weitaus meisten Sterbenden schon aufgrund der zugrundeliegenden Erkrankungsbilder vernünftigerweise kaum geeignet: Ihr Sterbeprozess endet i.A. in der gemeinsamen „Endstrecke“ eines fortschreitenden (Multi)Organversagens.
Auch eine Reihe anderer Ursachen für ein – geradezu unvermeidbar – eher „begrenztes“ Gesamtaufkommen an potenziellen Organspendern sind hinlänglich bekannt: 
Bei den meisten Sterbenden liegt das „Hirntodkriterium“, als Voraussetzung für die Organentnahme, nicht vor. Dies liegt zu einem erheblichen Teil begründet in der (natürlich uneingeschränkt erfreulichen) Abnahme der Patienten, die schwere Schädel-Hirnverletzungen erleiden. Weitere häufige Ursachen sind interne Probleme bei der Meldung etwaiger Spender, mangelhafte Koordination, Ablehnung durch die Angehörigen sowie höchstwahrscheinlich auch die jüngsten Skandale und das hierdurch (zusätzlich) erschütterte Vertrauen der Öffentlichkeit.9)
Für den kleinen „Bruchteil“ der wenigen, überhaupt infrage kommenden „Intensivpatienten“ gibt es schließlich weder verlässliche empirische Daten, noch wenigstens einigermaßen plausible Indizien dafür, dass das Phänomen der Patientenverfügung überhaupt irgendeine Korrelation mit dem tatsächlichen Spenderaufkommen insgesamt hat.10) Tatsächlich dürfte allerdings schon vor dem Hintergrund der skizzierten medizinischen Grundkonstellationen einerseits und der geringen Fallzahlen andererseits relativ unwahrscheinlich sein, dass die Patientenverfügung überhaupt irgendeinen größenmäßig relevanten oder gar objektiv messbaren Einfluss auf das
Spende-Aufkommen insgesamt haben kann.
Fazit: Die Grundannahme der BÄK, die Patientenverfügung für die Probleme der Organspende (haupt- oder mit)-verantwortlich zu machen, ist tatsächlich also
a) eher unkritisch von der „Transplantations-Lobby“ übernommen und
b) ausschließlich „theoriebasiert“.
Schon methodisch ist beides verfehlt und in höchstem Maße kritikwürdig:
So ist es beispielsweise in der Geschichte und in der Gegenwart der Medizin (und vieler anderer Wissenschaften) leider ja fast schon eher eine „Regel“, als eine „Ausnahme“, dass „theoriebasierte Annahmen“, auch wenn sie oft auf den ersten

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9) Vgl. hierzu exemplarisch: Fn. 4.)

10) Dies hindert Vertreter der Transplantationsmedizin allerdings offensichtlich nicht daran, weithin (gerade auch über die Massenmedien) die (nochmals: vollkommen unbelegte !) Behauptung zu streuen, vor allem die Patientenverfügung sei als „Hauptursache“ für die Abnahme (bzw. eher das Ausbleiben der erhofften Zunahme) der Organspende anzuschuldigen (Vgl. exemplarisch: Fn. 4).

 

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Blick „naheliegend“ und „plausibel“ klingen, dann trotzdem häufig eben nicht mit den tatsächlichen, empirisch-phänomenologischen Realitäten übereinstimmen. Auch ansonsten erscheint die eilfertige und unbelegte Anschuldigung nicht besonders glaubwürdig: Offensichtlich haben die BÄK sowie führende Vertreter der Intensiv- und der Transplantationsmedizin (sachlich zutreffend) erkannt, dass die Organspende einerseits und die (in großen Teilen der Ärzteschaft auch aus ganz anderen Gründen noch immer nicht gerade „wohl gelittene“) Patientenverfügung andererseits in der Praxis i.A. nicht miteinander zu vereinbaren sind. Aus Sicht der Transplantationsmedizin und ihrer Förderer, deren einzige Maxime derzeit die Steigerung der möglichen Organspenden ist, macht offenbar schon dieses Faktumalleine die Patientenverfügung zu einem legitimen „Angriffsziel“ – vollkommen unabhängig von dem Fehlen jeglicher sonstigen Evidenz.11)
Mit Blick auf die intensivmedizinische Faktenlage liegt ebenfalls der beunruhigende Eindruck nahe, dass sich die BÄK hier möglicherweise hat gutwillig für ganz andere Zwecke „instrumentalisieren“ lassen:
Die vorgeschlagenen Regelungen zur (intensiv)medizinischen Ermöglichung einer angeblichen „Vereinbarkeit“ von Organspende einerseits und Patientenverfügung andererseits werden – wie ausgeführt – wahrscheinlich kaum irgendeinen relevanten Einfluss auf die tatsächlichen Spenderzahlen haben. Diese betreffen in Deutschland im Jahr nur wenige Hundert Patienten. In Bezug auf sicher Zehntausende von Sterbenden, die
inzwischen Patientenverfügungen errichtet haben, bedeuten die Empfehlungen, dass die behandelnden Intensivmediziner (im Falle der gleichzeitigen Existenz einer Organspendeerklärung) die alleinige „Definitionshoheit“ über alle infrage kommenden Maßnahmen haben (unabhängig z.B. davon, ob bzw. für wen diese sinnvoll oder unsinnig sind). Alle entgegengesetzte Wünsche und Verfügungen des Patienten können dann durch sie problemlos, faktisch unkontrolliert sowie für sie selbst folgenlos übergangen werden.
Für diese und alle anderen, insgesamt rd. 400.000 Intensiv-Patienten ist zudem an das bereits angesprochene Ausmaß und die Fragwürdigkeit der intensivmedizinischen Überkapazitäten und der Überbehandlung in Deutschland zu erinnern.
Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen, dass – nicht zuletzt vor diesem gesundheits-ökonomischen und berufspolitischem Hintergrund – auch viele führende Intensivmediziner in Deutschland ohnedies bereits eher als erklärte „Kritiker“ der Patientenverfügung oder anderer Bemühungen allgemeiner Therapiebegrenzung ausgewiesen sind. All diese potenziell gravierenden Interessenskonflikte, die
ausschließlich zu Lasten der betroffenen Patienten bzw. potenziellen Organspender gehen, werden von der BÄK entweder schlicht ignoriert, oder zumindest ernsthaft unterschätzt.

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11) Der Versuch, die Patientenverfügung für enttäuschende Organspende-Zahlen verantwortlich zu machen, ist aus deren Sicht natürlich auch leichter und „unverfänglicher“, als sich differenziert und selbstkritisch mit anderen, insgesamt wohl wahrscheinlicheren Ursachen auseinander zu setzen (s.o.). Gleiches gilt für die tiefe Glaubwürdigkeitskrise, in der sich die Transplantationsmedizin inzwischen befindet und den wachsenden Widerspruch, auf den sie zunehmend auch in der Öffentlichkeit trifft. Weiter Hintergründe: Vgl. Strätling (Fn. 5).

 

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2. Widersprüchliche Angaben zur Intensivbehandlung: Auch die Angaben zu Umfang, Dauer und Invasivität der Intensivtherapie zur Ermöglichung der Organspende sind eher beschwichtigend und damit potenziell fehlleitend: Die BÄK räumt zwar ein, dass eine solche Intensivbehandlung unvermeidbar ist, spricht andererseits aber wiederholt von „kurzfristig“ und „ausnahmsweise“. Tatsächlich ist diese Intensivbehandlung jedoch die Regel. Sie ist zudem meist hoch-invasiv und erheblich belastend, wird u.U. über Tage hinweg fortgesetzt und ist dabei ausschließlich fremdnutzenorientiert.

3. „Um-Definierung“ der „Wiederbelebung“: Aus medizinisch-praktischer sowie wissenschaftlicher Sicht problematisch und kritikwürdig ist weiterhin, dass der Begriff der „Wiederbelebung“ / „Reanimation“ (welche in der Patientenverfügung ja meist ausdrücklich – sowie aus guten Gründen – untersagt ist) plötzlich faktisch „umdefiniert“ wird. Man tut so, als gälte dieser Tatbestand bzw. dieses Verbot nur im Falle des sog. „akuten Herz-Kreislaufstillstands“. Tatsächlich sind jedoch viele der Intensivmaßnahmen bei Sterbenden oder potenziellen Organspendern nichts anderes als „Langzeit-Reanimationen“. Diese werden technisch jedoch nicht durch die allgemein bekannte „Herzdruckmassage" durchgeführt, sondern durch andere Mittel (z.B. kreislaufstützende Medikamente, Flüssigkeitstherapie, Beatmung, Organersatzverfahren u.a.m.). Dieser Umstand ist im internationalen Schrifttum auch vollkommen unstrittig. Dort spricht man allgemein von “Resuscitation“ und “Life-support“. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die BÄK – wieder einmal ausschließlich im Bereich der Organspende – eine international akzeptierte, allgemeingültige und wissenschaftlich vollkommen unstrittige Definition verändert. Ziel dieser Maßnahme ist, den (Gesamt)Tatbestand „einzuengen“: Dessen breites Segment der intensivmedizinschen „Langzeitreanimation“ wird also einfach „ausgeklammert“. Damit wird eine eher regelhaft durchgeführte, erheblich invasive und belastende „Langzeit-Reanimation“ als nur „ausnahmsweise“ und „kurzfristig“ durchgeführte Überbrückungs-Behandlung „beschönigt“. 

4. Keine Diskussion von verfügbaren Alternativen: Bedauerlich ist schließlich auch, dass die BÄK methodisch weniger fragwürdige Alternativen zu ihren derzeitigen Empfehlungen gar nicht erst zur Diskussion stellt. Beispielsweise die “non heart-beating donation“ oder eine Nuancierung des derzeitigen „Hirntodkonzepts“ stellen im Ausland durchaus verbreitete und erprobte Optionen dar. Diese ließen sich durch relativ begrenzte Änderungen der derzeitigen Gesetzgebung in Deutschland sehr viel glaubwürdiger und pragmatischer umsetzen, als durch medizinisch problematische „Umdefinierungen“.

 

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II. Sechs rechtlich klärungsbedürftige Fragen:

Schon aus allgemein (medizin)rechtlicher Sicht lassen sich nach der vorläufigen Einschätzung des Autors mindestens sechs ernst zu nehmende Einwände gegen das Arbeitspapier der BÄK identifizieren:

1. Regelungsbedarf und Regelungsgegenstand: Trotz ihres eher ungewöhnlichen Titels eines „Arbeitspapiers“ sollen die jetzigen Empfehlungen, als „Verlautbarung der Bundesärztekammer“, offensichtlich als zukünftige „Regelsetzung“ im Sinne des Berufsrechts verstanden werden. Wie in allen anderen Rechtsbereichen auch stellt sich damit zunächst die Frage nach dem tatsächlichen „Regelungsbedarf“ und dem „Regelungsgegenstand“. In Sachen Regelungsbedarf argumentiert die Kammer ausschließlich mit dem
Mangel an geeigneten Spenderorganen. Dieser ist zutreffend. Regelungsgegenstand im eigentlichen Sinne ist allerdings weder die Organspende-Erklärung, oder die allgemeineren Rahmenbedingungen der Transplantationsmedizin, sondern die Patientenverfügung. Diese steht jedoch – wie ausgeführt – überhaupt nur in seltenen Ausnahmesituationen in einer zumindest potenziell relevanten Interaktion mit der Organspende. Die theoriebasierte Annahme der Kammer, die Patientenverfügung stünde gar in relevantem Umfange in einem kausalen Zusammenhang mit den enttäuschenden Organspende-Zahlen ist empirisch unbelegt. Sie ist medizinisch bisher nicht plausibel begründbar und auch insgesamt eher unwahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund ist der von der BÄK gewählte (Haupt)Regelungsgegenstand (nämlich die Patientenverfügung) offenkundig schon methodisch ungeeignet, das angestrebte Regelungsziel tatsächlich sowie in nennenswertem Umfange zu erreichen. Damit ist natürlich auch inhaltlich der objektive Regelungsbedarf über die Option der Patientenverfügung in Abrede zu stellen.

2. Verhältnismäßigkeit der vorgeschlagenen Regelung: Die Patientenverfügung hat – als „Rechtsinstitut“ – auch „naturgemäß“ keinen kausalen Einfluss auf die medizinischen Voraussetzungen der Organspende sowie die sich hieraus ergebenden, insgesamt eher geringen Fallzahlen infrage kommender Spender. Selbst wenn die von der BÄK vorgeschlagene Regelung also zugelassen und allgemein umgesetzt würde, würde dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit allenfalls zu einer sehr bescheidenen Zunahme der Organspender führen. Diese dürfte am wahrscheinlichsten in einer Größenordnung von insgesamt nur wenigen Dutzend liegen. Dem stehen sicher bereits jetzt zumindest zehntausende von Patienten gegenüber, deren Patientenverfügungen potenziell „ausgehebelt“ werden könnten. Bei mehreren Hunderttausend Patienten würden die ohnedies oft schwierigen „Entscheidungen am Lebensende“ noch zusätzlich verkompliziert. Damit würden diese auch weiterhin verbreitet (und potenziell sogar noch weiter zunehmend) einer vermeidbaren Übertherapie ausgesetzt – und folglich

 

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objektiv geschädigt. Auch die Rechtssicherheit der Betroffenen und ihrer Stellvertreter würde erheblich untergraben. Vor dem Hintergrund der erörterten Interessenskonflikte und aktuellen Glaubwürdigkeitsprobleme, gerade auf Seiten der Ärzteschaft, wiegt dieser faktische Wegfall jeglicher „Kontroll-“ und „Korrekturmechanismen“ besonders schwer. Dies gilt nicht nur aus juristischer Sicht und damit für die Rechtspflege und den allgemeinen Rechtfrieden. Gerade auch aus Sicht des für die Arzt-Patientenbeziehung und für die Ethik in der Medizin entscheidenden Vertrauensverhältnisses sind erhebliche, negative Auswirkungen zu befürchten. Damit ist auch die Verhältnismäßigkeit der durch die BÄK propagierten Lösung insgesamt in Abrede zu stellen.

3. Strafrecht: Ziel des BÄK-Arbeitspapiers ist die (angeblich „einvernehmliche“ bzw. „informierte“) Aussetzung der Patientenverfügung, um eine Organspende zu ermöglichen. Die „einfache Ignorierung“ der Patientenverfügung an sich ist selbstverständlich auch nach Einschätzung der BÄK nicht akzeptabel. Strafrechtlich wäre dies i.A. eine „Körperverletzung“. Der unvermeidliche Haupteinwand ist vor diesem Hintergrund
der Versuch der BÄK einer Einflussnahme und „Beugung“ der Definitionsparameter der juristischen (und auch allgemein-wissenschaftlichen) „Tatbestandslehre(n)“:
Die BÄK versucht die „Suspendierung“ der Patientenverfügung u.a. ja dadurch zu legitimieren, dass sie – bei allem gebotenen Respekt – zu einem gewissen Gerade über die medizinisch und juristisch relevanten Tatbestände hinwegtäuscht (Beschönigung, Beschwichtigung, Um-Definierung).
Dieser nach Einschätzung des Autors ebenso fragwürdige wie „durchsichtige“ Versuch könnte v.a. für behandelnde Ärzte ernste Komplikationen forensischer Art nach sich ziehen: Die Übergehung einer Patientenverfügung unter solchen Umständen könnte nicht „nur“ als Straftatbestand der Körperverletzung aufgefasst (und potenziell geahndet) werden. Es stehen dann nämlich auch die Fragen von „Vorsatz“ oder ggf. sogar von „Arglist“ im Raum (und damit eine sogar noch aggravierte Körperverletzung).
Schon vor diesem Hintergrund ist Ärzten und Pflegenden derzeit dringend davon abzuraten, sich bei der Moderation der hier maßgeblichen Entscheidungsfindungsprozesse durch die Stellungnahme der BÄK leiten zu lassen. Anderenfalls drohen nach der bisherigen Einschätzung des Autors potenziell durchaus ernste Sanktionen straf- und zivilrechtlicher Art [z.B. aufgrund „fehlerhafter Willensbildung“, „eigenmächtiger Heilbehandlung“, (ggf. „vorsätzlicher“) „Körperverletzung“].

4. Fehlerhafte Empfehlung bei vorliegender Patientenverfügung ohne Angabe zur Organspende: In dieser Konstellation sagt die Kammer, dass wenn der Patient intensivmedizinische Maßnahmen über seine Patientenverfügung ausgeschlossen hat, seine Angehörigen oder Stellvertreter dieser dennoch (unter faktischer Aussetzung der Verfügung) zustimmen könnten, um eine

 

– Seite 10 – 

Intensivbehandlung zwecks Organspende zu ermöglichen. Nach Einschätzung des Autors ist diese Interpretation der Rechtslage fehlerhaft: Liegt in der schriftlichen Patientenverfügung keinerlei Angabe zur Organspende aber ein hinreichend klares Verbot der Intensivtherapie vor, gilt dieses Verbot. Anderweitige, zumal fremdnutzenorientierte Spekulationen von Ärzten und Angehörigen sind in diesem Falle schlicht unbeachtlich (Vgl. hierzu auch Punkt 6.). Auch diese Stellungnahme vermittelt daher leider den Eindruck, dass die Empfehlung der BÄK – neben der (mehr oder weniger vorgeblichen) Stärkung der Organspende eine “hidden agenda“ haben könnte: Eine allmähliche Aushöhlung und Untergrabung der Patientenverfügung (und damit der Selbstbestimmung des Patienten) .

5. „Ethikberatung“: Auf dem ersten Blick zweifellos „wohlmeinend“, bei genauer Betrachtung allerdings ebenfalls vollkommen inakzeptabel ist auch die (abermalige) Empfehlung der BÄK, zur etwaigen „Konfliktlösung“ in entsprechenden Fällen könnte eine sog. „Ethikberatung“ hilfreich sein. Tatsächlich ist die „Ethikberatung“ ein „Cluster“ höchst „experimenteller“ Verfahren:
• Es gibt keinen empirischen Wirksamkeitsnachweis.
• Sie wird von Ärzten, Patienten und Juristen in der Praxis weder akzeptiert, noch in nennenswertem Umfang in Anspruch genommen.
• Die Qualifikationen und v.a. auch die Legitimation der meist selbsternannten  „Ethik-Berater“ ist vollkommen ungeklärt.
• Vereinnahmung der Methoden zur Beförderung einseitiger ideologischweltanschaulicher und berufspolitischer Interessen ist weit verbreitet.
Derzeit ist in Deutschland (und international) die einzig zulässige und sicher bewährte Instanz zur Lösung ernster Konflikte in diesen Fragen der Rechtsweg. Die Materie ist verständlicherweise auch viel zu ernst und folgenreich, als dass man hier ein fragwürdiges „Herumexperimentieren“ erlauben sollte oder könnte. Daher sollte auch in Bezug auf diese Empfehlung für die „Praktiker“ als eindringliche Warnung hinzugefügt werden: Der vorgesehene und bewährte Rechtsweg (bzw. seine Nichtbeachtung, insbesondere wenn diese zu Lasten des Patienten oder seiner Stellvertreter und Angehörigen gehen sollte) ist juristisch durchaus sanktionsbewehrt.12)

6. Angebliche „Gleichwertigkeit“ von Patientenverfügung und Organspendeerklärung: Auch die These der Bundesärztekammer, die Patientenverfügung einerseits und die Organspendeerklärung andererseits seien prinzipiell gleichberechtigt, ist derzeit lediglich
in der ethischen und rechtlichen Theorie zutreffend. In der Praxis ist sie weit von den Realitäten entfernt.

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12) Umfassend hierzu: Strätling (Fn. 8); Strätling M., Sedemund-Adib B. Ethikberatung – Ethische Kernkompetenzen
in die Medizin zurückholen. Dtsch Arztebl 2013; 110(17): A-825 – 828.

 

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Unstrittig ist, dass bei derartigen „Vorausverfügungen“ alles davon abhängt, wie glaubwürdig und robust die tatsächliche „Willensbildung“ des Patienten ist. Auch hier muß es sich also um eine tatsächliche „informierte“ Einwilligung (“informed consent“) des Patienten bzw. Verfügenden handeln Bei der Patientenverfügung gibt es damit in Deutschland inzwischen eigentlich keine wirklich relevanten Probleme mehr.13) Bei der Organspende ist dem gegenüber das alles nicht der Fall: Auch nach der jüngsten Novelle des Transplantationsgesetzes sind die von den Versicherungsträgern nun im staatlichen Auftrag verbreiteten „Aufklärungs“-Materialien praktisch ausnahmslos unvollständig, einseitig bis tendenziös sowie meist ausgesprochen „schönfärberisch“.14)  Zudem ist auch die öffentliche
Berichterstattung bisher oft von einem Maß an Naivität und schlichter „Realitätsverweigerung“ geprägt, welches ausgesprochen erschreckend ist.15)

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13) Keine unnötige „Sterbensverlängerung“ zu wollen ist medizinisch hochvernünftig, ethisch vollkommen „in Ordnung“ und auch rechtlich akzeptiert. Die Patientenverfügung muss schriftlich und durchaus umfangreich verfasst sein; es existieren also rechtliche „Wirksamkeitserfordernisse“, medizinisch-inhaltliche „Gütekriterien“, umfassende Informationsmaterialien, Beratungsstellen, ggf. zusätzliche Stellvertreter, eine klar definierte Rechtsaufsicht u.va.m. Zusätzlich ist die Patientenverfügung ausschließlich auf die verfügende Person selbst bezogen.
14) In der Praxis bedeutet dies, dass Interessierte auch über die Organspende grundsätzlich unter Kriterien aufgeklärt werden müssen, die unter ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten allgemein als verbindlich anerkannt sind. Damit dürfen sie nicht nur – wie derzeit leider üblich – praktisch ausschließlich vollkommen einseitige „Pro-Argumente“ präsentiert bekommen. Stattdessen muss aus ethischer und rechtlicher Sicht darauf bestanden werden, dass sie prinzipiell gleichberechtigt auch über die vielen, sehr ernst zu nehmenden
Gegenargumente informiert werden können. Hierzu gehört z.B., dass das „Hirntod-Konzept“, welches der Organspende zugrunde liegt, wissenschaftlich als „höchst umstritten“ zu bezeichnen ist. Das Faktum, dass es praktisch nur (noch) in der Transplantationsfrage angewandt wird und dass in allen anderen Bereichen (z.T. diametral entgegengesetzte) ethische und rechtliche Theorien und Doktrinen Anwendungen finden, muß ebenfalls erwähnt werden. Gleiches gilt für die vielen ethisch und rechtlich zutiefst „beunruhigenden“ Schlussfolgerungen, die sich aus diesem „kulturhistorischen Systembruch“ ergeben [Weitere Hintergründe hierzu: Vgl. Strätling (Fn.5)]. Auch die oben bereits erörterten, insbesondere (intensiv)medizinischen Implikationen, die die Organspende für die Gestaltung des Sterbeprozesses der Organspender hat (i.e. seine Verlängerung und zusätzliche Belastung mit fremdnutzenorientierten Interventionen) ist eindeutig aufklärungspflichtig.
Ein wesentliches, in der bisherigen Praxis aber offenkundig verbreitet ignoriertes Detail ist diesbezüglich, dass eindeutig „fremdnutzenorientierte“ Intensivmaßnahmen [die für den Sterbenden selbst also keine prognostische Relevanz mehr haben, sondern z.B. lediglich als „Vorbereitung“ auf eine mögliche (in der Praxis aber oft noch nicht einmal mit den Angehörigen erörterte, geschweige denn konsentierte) Organspende dienen, ethisch wie rechtlich überhaupt erst zulässig sind, wenn neben der (damit bereits bestehenden)
Indikation zur „Therapiebegrenzung“ zugleich auch die Voraussetzungen für eine mögliche Organspende (i.W. also die Bestätigung der sog. „Hirntoddiagnostik“) tatsächlich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen (Vgl. auch Fn. 6).

15) Nach den praktischen Erfahrungen des Autors und seiner Einschätzung der bisher verfügbaren empirischen Evidenz verdichten sich die Hinweise darauf, dass es tatsächlich eben dieses Phänomen einer wenig glaubwürdigen „Realitätsverweigerung“ und öffentlichen „Desinformation“ ist, welches die wahrscheinliche Hauptursache für das insgesamt eher wachsende „Akzeptanz-“ und „Glaubwürdigkeitsproblem“ der Transplantationsmedizin und ihrer wichtigsten Förderer in der Ärzteschaft und der Medizinethik darstellt. Dort wird schon seit langem – und tendenziell mit sogar eher noch zunehmender „Militanz“ – alles ausgeblendet, marginalisiert oder gar als ethisch oder wissenschaftlich defizitär diffamiert, was dem „wohlmeinenden Anliegen“ des weiteren Ausbaus der Transplantationsmedizin in irgendeiner Weise entgegenstehen könnte. Zugleich wird verbreitet eine pseudo-„ethisch“ bemäntelte „Card Blanche“ eingefordert – und leider oft auch vollkommen unkritisch gewährt. Dieser Umstand ist letztlich wohl auch als Hauptursache für die vielfachen Skandale der jüngeren Vergangenheit anzusehen, bei denen ein (seitdem i.W. unveränderter) Mangel an Kontrolle, kritischer

 

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Damit bleiben derzeit wohl alle in Deutschland verbreiteten „Informationsmaterialien“ zur Organspende weit hinter den allgemein üblichen und z.T. sogar rechtlich vorgeschriebenen Kriterien der „informierten Einwilligung“ die „allgemeine Heilbehandlung“ zugrunde legt, oder die aus guten Gründen tendenziell etwas strikteren der Vorausverfügung. Damit sind derzeit nicht nur erhebliche Zweifel an der „ethischen Validität“ praktisch aller bisher bzw. derzeit erlassen Organspende-Erklärungen angebracht. Auch ihre juristische Bindungswirkung und Rechtswirksamkeit ist streng genommen in Abrede zu stellen.
Für die Praxis bedeutet dies:
a. Derzeit ist davon auszugehen, dass Patienten über die tatsächlichen Hintergründe und Implikationen der Patientenverfügung i.A. wesentlich besser aufgeklärt sind, als über die Organspende.
b. Ihre prinzipiell wohlmeinende Intention eine Organspende zu ermöglichen, obwohl diese in der Praxis i.A. nicht mit ihrer Patientenverfügung vereinbar sein wird, ist wahrscheinlich fast ausschließlich auf ein „Aufklärungsdefizit“ zur Organspende und ihren (intensiv)medizinischen Implikationen (und eben nicht zur Patientenverfügung) zurückzuführen.
c. Es ist nach Einschätzung des Autors absehbar eher unwahrscheinlich, dass in nennenswerten Umfange Patienten bevorzugt zu Gunsten der Organspende entscheiden würden, wenn ihnen klar wird, dass die Patientenverfügung und die Organspende in den meisten Fällen der Praxis nicht miteinander vereinbar sind. Es ist medizinisch, rechtlich und ethisch auch vollkommen legitim und verständlich, dass die meisten von ihnen wahrscheinlich nicht akzeptieren werden, dass ihre Patientenverfügung „wenn´s wirklich darauf ankommt“ doch
eher regelhaft „ausgehebelt“ und übergangen werden kann, ohne dass ihnen (oder auch ihren Angehörigen und Stellvertretern) dann noch irgendeine wirklich relevante Möglichkeit zur weiteren Einflussnahme verbleibt.
d. Mit ihrem „Arbeitspapier“, welches dieses Problem eindeutig nicht in der gebotenen Klarheit ausspricht,16) perpetuiert und befördert die Bundesärztekammer in diesen Fragen eine „fehlerhafte Willensbildung“ der Verfügenden. 

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Distanz, Unabhängigkeit und Transparenz zu weitverbreiteten Missbrauch der transplantationsmedizinischen Strukturen führte. Entgegen der noch immer weit verbreiteten Befürchtungen (etwa in der Ärzteschaft, den Medien, oder der Politik) muß die Organspende und die Transplantationsmedizin offenbar also gar nicht so sehr die offene und wahrhaftige Diskussion ihrer vielen ungelösten und schwierigen Probleme „fürchten“. (Diese hat die Mehrheit der Öffentlichkeit augenscheinlich entweder längst durchschaut, oder erahnt diese
zumindest). Es ist vielmehr eher dieser Eindruck einer unduldsamen „Aggressivität“ und eines weit verbreiteten Mangels an Aufrichtigkeit, zumal im Namen einer vorgeblichen „Ethik“ in der Medizin, welcher in der breiteren Öffentlichkeit (und zunehmend auch in den Heilberufen) auf Vorbehalte stößt und als eher unglaubwürdig und abstoßend empfunden wird [Weitere Hintergründe: z.B. Strätling et al. (Fn. 5, 8, 12); Sokol DK. Is bioethics a bully? BMJ 2012; 345: 32.].
16) Vgl. Fn. 6, 14.

 

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Dies ist aus ethischer Sicht inakzeptabel und in Deutschland auch rechtswidrig.

e. Damit hat die Bundesärztekammer hier leider eine potenziell wichtige Chance verspielt: Anstelle eines „Neubeginns“ und einer „Glaubwürdigkeitsoffensive“ bleibt sie den bisherigen „Rezepten“ verhaftet, die die Organspende und die Transplantationsmedizin die tiefe Glaubwürdigkeitskrise beschert haben, die sie derzeit erlebt. Medizinisch-ethisches Fazit: Angesichts der Vielzahl der hier erörterten Schwächen ist leider anzunehmen, dass es der Bundesärztekammer auch mit dem nun vorgelegten Arbeitspapier nicht gelingen wird, einen Beitrag zur tatsächlichen „Befriedung“ der derzeitigen Kontroverse um die Transplantationsmedizin und die Organspende zu leisten. Auch deren wachsenden Akzeptanz-, „Image-“ und Glaubwürdigkeitsprobleme werden eher verschärft. Eine grundsätzliche Neuausrichtung
der Debatte und der Praktiken der Transplantationsmedizin insgesamt erscheint dringend angezeigt. Wie in allen anderen Bereichen der Medizin sowie der Gesundheits- und Sozialpolitik wird diese nicht zuletzt auch die unvermeidlichen „Grenzen der Verfahren“ bejahen, anerkennen und allgemeinverständlich erklären müssen. Nur so dürfte das, was hier in vernünftiger und pragmatischer Weise sowie
in einem angemessenen, namentlich zutiefst pluralistisch-duldsamen Rahmen erreichbar ist, auch tatsächlich zu ermöglichen und längerfristig zu bewahren sein.

 

Lübeck und Cardiff, im Mai 2013
PD Dr. med. habil. Meinolfus W.M. Strätling

 

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Zahl der Organspenden drastisch gesunken

Nach dem Skandal haben viele das Vertrauen ins System verloren.

Ihre Aussichten, bald ein Spendeorgan zu bekommen, sind unterdessen noch schlechter geworden. Seit vor zehn Monaten erhebliche Manipulationen bei der Organvermittlung bekannt wurden, ist die Spendenbereitschaft weiter gesunken: Im Jahr 2012 gab es nur noch 1046 Organspenden, fast 13 Prozent weniger als im Vorjahr.