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Familiensolidarität: Enterbung nur möglich in Extremfällen wie Lebensgefährdung

10. Nov 2008

Enterbung nur bei Lebensgefahr

Eltern dürfen ihre Kinder nur in extremen Ausnahmefällen komplett enterben etwa, wenn sie ihnen nach Leib und Leben trachten. Mit einem entsprechenden Beschluss vom 19. April 2005 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03 bestätigte das Bundesverfassungsgericht das bestehende Erbrecht als verfassungsgemäß. Der so genannte Pflichtteil darf Kindern demnach nur bei einem außergewöhnlich schwerwiegenden Fehlverhalten gegenüber ihren Eltern entzogen werden. Bei einem lediglich familiären Konflikt zwischen Eltern und Kind bleibt es dabei, dass dem Kind der Pflichtteil erhalten bleiben muss.


Den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.04.2005 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03 finden Sie hier: Beschluss Bundesverfassungsgericht


Grundgesetz gewährleistet Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass

Die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass wird durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet. Die Normen über das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers (§ 2303 Abs. 1 BGB) und über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:
Nach § 2303 Abs. 1 BGB kann das Kind eines Erblassers, das durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist, von dem Erben den Pflichtteil verlangen. Der Erblasser kann dem Kind den Pflichtteil nur entziehen, wenn ein Pflichtteilsentziehungsgrund vorliegt. Dies ist unter anderem dann der Fall, wenn das Kind dem Erblasser nach dem Leben trachtet oder es sich einer vorsätzlichen körperlichen Misshandlung des Erblassers schuldig macht (§ 2333 Nr. 1 und 2 BGB).
Verfahren 1 BvR 1644/00:
Der Beschwerdeführer (Bf) ist einer von zwei Söhnen der Erblasserin. Sie hatte ihn zu ihrem Alleinerben eingesetzt und lebte mit ihrem an einer schizophrenen Psychose leidenden anderen Sohn (im Folgenden: Kläger) in einem Haus. In den letzten Jahren vor ihrem Tod kam es wiederholt zu schweren tätlichen Angriffen des Klägers gegen die Erblasserin. Einen Monat vor ihrem Tod entzog die Erblasserin dem Kläger wegen der von ihm begangenen Misshandlungen den Pflichtteil. Im Februar 1994 erschlug der Kläger die Erblasserin aus Angst vor und aus Wut wegen seiner bevorstehenden Einweisung in das Landeskrankenhaus. Wegen dieser Tat ordnete das Landgericht (LG) in einem Sicherungsverfahren die Unterbringung des bei der Tötung schuldunfähigen Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Der Kläger, vertreten durch seinen Betreuer, machte gegen den Bf seinen Pflichtteilsanspruch geltend. LG und Oberlandesgericht (OLG) gaben der Klage statt, da wegen der Schuldunfähigkeit des Klägers eine wirksame Pflichtteilsentziehung nicht vorliege. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde (Vb) des Bf hatte im Wesentlichen Erfolg. Der Erste Senat hob das Urteil des OLG auf, weil es den Bf in seinem Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, und wies die Sache an das OLG zurück. Verfahren 1 BvR 188/03:
Zwischen dem Erblasser, der vor seinem Tod an verschiedenen Erkrankungen litt, und seinem Sohn (im Folgenden: Kläger) kam es in den letzten Jahren vor dem Erbfall zu Auseinandersetzungen über den Kontakt des Erblassers mit seinem Enkelkind. Der Erblasser entzog dem Bf den Pflichtteil mit der Begründung, trotz Kenntnis von der Erkrankung habe der Kläger die Kontaktaufnahme zu dem Enkelkind verweigert. Nach dem Tod des Erblassers machte der Kläger gegenüber der Erbin (Bf) mittels einer Auskunftsklage sein Pflichtteilsrecht gerichtlich geltend. Die Gerichte hielten die Pflichtteilsentziehung für unwirksam. Die gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhobene Vb der Erbin hatte keinen Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: 1. Zu den von der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten traditionellen Kernelementen des deutschen Erbrechts gehört auch das Recht der Kinder des Erblassers auf eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige Teilhabe am Nachlass. An diese grundsätzliche Anerkennung eines Pflichtteilsrechts der Kinder hat der Grundgesetzgeber durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG angeknüpft. Das Pflichtteilsrecht der Erblasserkinder ist neben der Testierfreiheit und dem Erwerbsrecht des Erben Bestandteil des institutionell verbürgten Gehalts der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG.

Darüber hinaus ist das Pflichtteilsrecht Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern besteht. Art. 6 Abs. 1 GG schützt das Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Die Verpflichtung zur gegenseitigen umfassenden Sorge rechtfertigt es, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dem Vermögen des verstorbenen Elternteils zu sichern. Gerade in Fällen einer Entfremdung zwischen dem Erblasser und seinen Kindern setzt das Pflichtteilsrecht der Testierfreiheit des Erblassers Grenzen und der damit für ihn eröffneten Möglichkeit, ein Kind durch Enterbung zu “bestrafen”.

2. Die Norm über das Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers genügt auch in der konkreten Ausprägung (§ 2303 Abs. 1 BGB) den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Regelung sichert einerseits den Kindern des Erblassers eine angemessene Nachlassteilhabe in Form eines Geldanspruchs. Der den Kindern gewährte Anteil am Nachlass lässt andererseits dem Erblasser einen hinreichend großen vermögensmäßigen Freiraum, um seine Vorstellungen über die Verteilung seines Vermögens nach dem Tode umzusetzen.

Auch die Regelungen über die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Sie knüpfen die Versagung des Pflichtteilsanspruchs des Kindes an ein außergewöhnlich schwerwiegendes Fehlverhalten gegenüber dem Erblasser. Nur dann ist es für den Erblasser unzumutbar, eine seinem Willen widersprechende Nachlassteilhabe des Kindes hinzunehmen. Die gesetzlichen Regelungen umschreiben auch im Interesse der Normenklarheit und der Justiziabilität das Fehlverhalten des Kindes gegenüber dem Erblasser in hinreichend klarer Weise. Sie sehen zudem jedenfalls in der Auslegung, wie sie durch Rechtsprechung und Lehre gefunden haben mit der Voraussetzung eines schuldhaften Verhaltens des Kindes ein Tatbestandsmerkmal vor, das für den Regelfall in geeignete Weise sicher stellt, dass Fehlverhaltensweisen eines Kindes den Erblasser nur in extremen Ausnahmefällen zur Pflichtteilsentziehung berechtigen.

3. Die mit der Vb 1 BvR 1644/00 angegriffenen Entscheidungen tragen allerdings bei der Anwendung des § 2333 Nr. 1 BGB der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Testierfreiheit nicht hinreichend Rechnung. Nach dem im strafgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten war der Kläger bei der Tötung der Erblasserin zwar schuldunfähig im strafrechtlichen Sinne, aber immerhin in der Lage, das Unrecht seiner Tat einzusehen. Dies hätte die Zivilgerichte im Ausgangsverfahren zur Prüfung veranlassen müssen, ob der Kläger bei den vorangegangenen Misshandlungen jedenfalls in einem natürlichen Sinne vorsätzlich gehandelt und den Tatbestand des nach dem Leben Trachtens gem. § 2333 Nr. 1 BGB erfüllt hatte.

Die angegriffenen Entscheidungen im Verfahren 1 BvR 188/03 verletzten die Bf nicht in ihren Verfassungsrechten. Der Pflichtteilsentziehung lag eine familiäre Konfliktsituation zu Grunde, wie sie kennzeichnend für eine Enterbung ist und in der das Pflichtteilsrecht gerade seine Funktion erfüllt.

Beschluss vom 19. April 2005 1 BvR 1644/00 und 1 BvR 188/03

Der vollständige Beschlusstext abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20050419_1bvr164 400

Quelle: Pressemitteilung vom 3. Mai 2005 Bundesverfassungsgericht