Nationaler Ethikrat: Mythos “Selbstbestimmung im Sterben”
Unter dem seit Sherwin W. Nulands gleichnamigen Buch fast zum Schlagwort gewordenen Titel “Wie wir sterben” tagte letzte Woche der Nationale Ethikrat in Augsburg und damit zum ersten Mal außerhalb Berlins. Wie Udo Schlaudraff in seiner Einführung feststellte, besteht in unserer Gesellschaft eine gefährliche Mischung aus sich gegenseitig verstärkendem Anspruchsdenken (auf absolute Autonomie) einerseits und Hilflosigkeit (vor allem auch der Angehörigen) andererseits. “Weil unsere Gesellschaft den Tod nicht zulassen kann, wird sie ihn eines Tages zuteilen”, so der Theologe.
In der Debatte überwog, wie die Süddeutsche Zeitung vom 02.04. berichtet, “der ehrliche Appell an eine größere Wahrhaftigkeit im Diskurs”. In “tastenden Denkbewegungen” habe das Gremium dabei “auf dem weiten Feld zwischen aktiver, indirekter und passiver Sterbehilfe jede Festlegung vermieden.” Hauptgedanken kreisten um folgende Thematik: Dem Sterbenden entgleite zunehmend alle Macht und Freiheit, um auf seinem und nur seinem eigenen Weg vielleicht ‘trotzig, vielleicht auch ungerecht’ zu beharren. Vielfältige Interessengruppen würden sich, zumal innerhalb von Krankenhausmauern, seiner bemächtigen: Ärzte, Sozialdienste, Pfleger, Seelsorger, therapeutische Begleiter und sogar Köche wurden genannt. “Der Mensch in seiner größten Angewiesenheit bräuchte offenbar Kräfte, die jedes Maß sprengen, um hier Widerstand zu leisten”, fasst die SZ zusammen.
Ist es da nicht illusorisch mit Kristiane Weber-Hassemer (Ethikratsmitglied) auf eine Atmosphäre zu hoffen, die “trotz Apparatemedizin, juristischer Unklarheit und kollabierender Gesundheitssysteme von Zuwendung und Autonomie gekennzeichnet ist”?
Auch der Münchener Soziologe Armin Nassehi hob die Asymmetrie hervor zwischen dem Moribunden und “den drei Gruppen, die sein Sterben organisieren”: klassischerweise Ärzte, Juristen und Priester. Jedem Organisationsprozess aber wohne “die Tendenz inne, normative Sätze auszubilden.” Aus soziologischer Sicht sei es völlig neu, dass unheilbare chronische Krankheit und eine lang hinausgeschobene letzte Lebensphase von der Frage nach dem “guten Tod” abgekoppelt werde und eine “eigene Realität” darstelle. Das Ethikratsmitglied Peter Radtke beklagte in diesem Zusammenhang, dass zirkulierende Muster von Patientenverfügungen einen bloßen “Fetisch” der Selbstbestimmung und einen “spätmodernen Mythos” darstellten.
In der Tat wird man sich fragen müssen, ob der Sinn einer individuellen Patientenverfügung nicht darin liegt, dem eigenen Weg am Ende zur Durchsetzung zu helfen gegen juristisch vorgegebene Garantenpflichten und Allmachtsansprüche jeder Couleur. Eine vorsorglich abgefasste Willenserklärung gilt dann durchaus für den Fall, wenn der Schwerkranke noch einsichtsfähig und ansprechbar ist, aber einfach schon zu schwach, um sich noch mit allen anstehenden Fragen auseinandersetzen und um Kräfte zu mobilisieren, “die jedes Maß sprengen, um Widerstand zu leisten.” Insofern besteht der “Mythos” Patientenverfügung in der weit verbreiteten falschen Meinung, dieses Instrument gelte für den Zustand der Bewusstlosigkeit oder zumindest der Betreuungsbedürftigkeit: Also wenn jemand im Sinne des Betreuungsrechtes zur Regelung seiner Angelegenheiten eines Stellvertreters oder gar eines Vormundschaftsrichters bedarf.