Gesetzliche Regelung von Patientenrechten und Sterbehilfe – 10 Eckpunkte des HVD von 2003
Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hat auf seiner Bundesdelegiertenversammlung am 20. September 2003 Folgendes verabschiedet:
"Autonomie am Lebensende"
Eckpunkte des HVD zur gesetzlichen Regelung von Patientenrechten und Sterbehilfe
1. Patientenwille und Selbstbestimmungsrecht gelten verbindlich
Jeder Patient hat bis zum Lebensende Anspruch auf eine qualifizierte und sorgfältige medizinische Behandlung. Er hat das Recht, Art und Umfang der medizinischen Behandlung selbst zu bestimmen. Der Arzt hat das Selbstbestimmungsrecht des einwilligungsfähigen Patienten als verbindlich zu achten und darf gegen den Patientenwillen keine medizinische Maßnahme durchführen. Ein ärztliches oder pflegerisches Zuwiderhandeln gegen dieses Patientenrecht ist rechtswidrig und ausdrücklich als Körperverletzung strafbar zu stellen. Dies gilt auch für lebensverlängernde oder –rettende Maßnahmen, deren Unterlassung oder Abbruch zum unmittelbaren Tod des Patienten führen. Auch wenn aus medizinischer Sicht durchaus Besserungsaussichten bestehen, gilt der frei erklärte Patientenwille zum Behandlungsverzicht und ggf. zum Tode. Die Freiheit des behandelnden Arztes, die Befolgung des Patientenwillens in ethischen Konfliktfällen an andere Kollegen zu delegieren, bleibt unberührt.
2. Qualitätsanforderungen an Patientenverfügungen
Bürgerinnen und Bürger können vorsorglich für den Fall, dass sie nicht mehr einwilligungsfähig sind, eine Patientenverfügung abfassen. Eine Patientenverfügung ist dann valide und gilt als erklärter Patientenwille, wenn die gewünschten oder zu unterlassenen medizinischen Maßnahmen für bestimmte Situationen konkret aufgeführt sind, der Betroffene über Alternativen, z. B. zu einem Behandlungsabbruch, sowie über Risiken und Folgen informiert ist und seine individuelle Motivation und Wertvorstellung belegt werden kann. Sie ist von allen Beteiligten verbindlich zu befolgen, sofern nicht konkrete Anzeichen ersichtlich sind, dass der Betroffene sie nicht mehr gelten lassen wollte. Allgemeine Musterformulare sind als Indiz bei der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens zu berücksichtigen. Von der Normierung von Formvorschriften ist abzusehen, ebenso wie von einem staatlicherseits vorformulierten Standardmuster.
3. Patientenrecht auf Palliativmedizin als Menschenrecht anerkennen
Der Patient hat einen Menschenrechtsanspruch auf fachgerechte Basispflege, Schmerztherapie, geriatrische und palliative Medizin sowie Sterbebegleitung. Diese Angebote sind im Gesundheitssystem besonders zu fördern und auszubauen. Ein Behandlungsverzicht oder eine missbräuchliche Medikation entgegen dem mutmaßlichen Patientenwillen und die Unterlassung gebotener Pflegeleistungen sind als Körperverletzung bzw., bei tödlicher Folge einer Vernachlässigung, als Totschlag strafrechtlich zu verfolgen.
4. Schutz der Patienten vor unzulässiger Sterbehilfe ohne Einverständnis
Grundsätzlich muss weiterhin gelten: Eine mutmaßliche Zustimmung des Patienten zur indirekten Leidensverkürzung oder zum Verzicht auf lebensnotwendige Behandlungsmaßnahmen darf nicht aufgrund einer Fremdbeurteilung oder allgemeinen Bewertung gesellschaftlicher Werturteile angenommen werden, dann ist aufgrund des Lebensschutzgebotes jede Form der Sterbehilfe unzulässig und rechtswidrig. Liegt vom Betroffenen mutmaßlich kein Einverständnis oder sogar eine Verweigerung vor, so ist bei Zuwiderhandeln ein strafbares Tötungsdelikt gegeben.
5. Zulässigkeit der "indirekten" Sterbehilfe und eines Behandlungsverzichtes
Sterbehilfe ist, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des unheilbar Todkranken entspricht, unter folgenden Bedingungen nicht als Tötungsdelikt im Sinne des Strafgesetzbuches, sondern im Gegenteil als zulässig und geboten zu werten: – als in Kauf genommene indirekte Todesbeschleunigung infolge notwendiger Palliativmaßnahmen einschließlich einer terminalen Sedierung, – als Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernden Maßnahmen einschließlich der künstlichen Ernährung und künstlichen Beatmung, auch wenn dadurch der sichere bzw. unmittelbar folgende Tod eintritt. Dies gilt auch dann, wenn es im Hinblick auf den nahe bevorstehenden Tod des Betroffenen und die Aussichtslosigkeit einer Heilbehandlung nach ärztlicher Erkenntnis nicht mehr angezeigt ist, lebensverlängernde Maßnahmen fortzuführen.
6. Ausnahmen von den Hilfs- und Garantenpflichten
Ein Suizid darf nicht regelmäßig als zur Hilfeleistung verpflichtender Unglücksfall gewertet werden. Dem bewusstlos gewordenen Suizidenten gegenüber bestehen keine Garantenpflichten (Strafandrohung wg. Totschlag durch Unterlassen), wenn die Selbsttötung auf einer nachvollziehbaren, ernsthaften Entscheidung beruht, insbesondere um einem langwierigen Siechtum oder einem bevorstehenden, u. U. qualvollen Sterben zu entgehen. Das StGB ist entsprechend zu ändern. Das Recht des volljährigen und aus freier Willensentscheidung Handelnden auf Freitod verlangt dann, dass die Hilfe zur Selbsttötung bei freiwillensfähigen Patienten einschließlich der Bereitstellung suizidtauglicher Mittel nicht nur straffrei, sondern von der Rechtsordnung auch als rechtmäßig zu billigen ist.
7. Ausnahmen vom Straftatbestand der Tötung auf Verlangen
Prinzipiell ist die Ermöglichung eines Todes in Würde, Schmerzfreiheit und Selbstbestimmung ein Menschenrecht. Niemandem kann auferlegt werden, mit schwersten Beschwerden und Schmerzen noch länger leiden zu müssen. Unter Beibehaltung der prinzipiellen Rechtswidrigkeit der Tötung auf Verlangen müssen Ausnahmetatbestände im Strafrecht neu formuliert werden. Wer als Arzt oder mit ärztlicher Ermächtigung bei einem tödlich Kranken gemäß dessen ausdrücklicher Willenserklärung Maßnahmen zur Leidminderung durchführt, welche mit einer als wahrscheinlich oder sicher anzunehmenden todesbeschleunigenden Nebenwirkung einhergehen, ist nicht mit Strafe zu bedrohen. Das Gericht hat ferner von einer Strafverfolgung mit Verweis auf § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) abzusehen, wenn gemäß der ausdrücklichen Willenserklärung des Patienten die gezielte Verkürzung eines von ihm nicht mehr zu ertragenden schwersten Leidenszustandes erfolgt, nachdem alle Möglichkeiten der Schmerztherapie, Palliativmedizin, des Behandlungsverzichts oder der ärztlich assistierten Freitodhilfe sorgfältig geprüft und ausgeschöpft bzw. vom Betroffenen als unzumutbar zurückgewiesen worden sind.
8. Besonderer Status des Bevollmächtigten
Ist eine Vertrauensperson vom Betroffenen selbst mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattet worden, so bedarf die Nicht-Einwilligung zu einer (Weiter-)Behandlung aufgrund des mutmaßlichen Willens des Betroffenen keiner amtsrichterlichen Genehmigung. Eine Missbrauchskontrolle auf einer rechtlichen Grundlage muss möglich sein. Steht der vom Bevollmächtigten geforderte Behandlungsabbruch nicht im Zusammenhang mit einer unmittelbar todesnahen Situation (z. B. bei lang andauerndem Koma oder schwerer Demenz), sind an den mutmaßlichen individuellen Willen erhöhte Anforderungen zu stellen, etwa durch Vorlage einer Patientenverfügung. Willigt der Bevollmächtigte umgekehrt im Sinne des Patienten in eine ärztlich indizierte Maßnahme ein, auch wenn diese mit dem Risiko von Schädigungen oder Nebenwirkungen einhergehen sollte, so ist eine regelmäßige vormundschaftsgerichtliche Routineüberprüfung ebenfalls nicht angemessen. Der § 1904 BGB ist dahingehend zu ändern.
9. Rechtsverbindlichkeit der validen Patientenverfügung hat Vorrang vor Gerichtsentscheid
Bei Vorliegen einer eindeutigen validen Patientenverfügung ist eine Betreuerbestellung für diesen Aufgabenbereich nicht erforderlich. Eine gerichtliche Überprüfung durch Vormundschaftsrichter ist in der Regel nicht erforderlich. Die Gesetzeslage ist entgegen dem Beschluss des BGH vom 17.03.2003 diesem Grundsatz anzupassen.
10. Mitwirkung des Gerichtes bei stellvertretender Entscheidung
Die Genehmigungs- und Kontrollpflicht des Vormundschaftsgerichts gilt allerdings für solche Fälle, in denen ein Konflikt zwischen Betreuer und behandelndem Arzt vorliegt, eine missbräuchliche Ausführung der Betreuung oder der Behandlung aufgrund nach-prüfbarer Indizien anzunehmen ist oder eine Feststellung und Durchsetzung des Patientenwillens erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass der Beschluss eines Vormundschaftsgerichtes sowie insbesondere eine valide Patientenverfügung unmittelbar zu befolgen sind.