Suizidentin in größter Not – helfender Arzt vor Gericht
Der in Berlin zurzeit wegen Suizidhilfe angeklagte Dr. Turowski weist jede Schuld von sich. Er bekennt sich dazu, seiner langjährigen, schwer leidenden Patientin Anja D. geholfen zu haben, wie von ihr eindringlichst erbeten.
Die verzweifelte, chronisch schwer leidende Anja D. aus Berlin hatte im Laufe der Jahre bereits mehrere missglückte Suizidversuche unternommen, als sie 2013 ihren langjährigen Hausarzt einweihte: Sie habe nunmehr einen sicheren “Schienensuizid” ins Auge gefasst.
“Sie war in allergrößter Not. Sie in solch einer Situation alleine zu lassen, das halte ich für moralisch unvertretbar”, sagte Dr. Christoph Turowski (68) über seine Patientin.
Er hatte sich nach Gesprächen mit ihr entschlossen, ihr insgesamt 150 Tabletten eines starken, betäubungsmittelähnlichen Schlafmittels auf Privatrezepten zu verschreiben. Diese sammelte Anja D., nahm sie ein und starb.
“Ich bin überzeugt, mich in ethisch und rechtlicher Hinsicht als Arzt richtig verhalten zu haben”, ergänzte Dr. Turowski im Interview mit dem rbb.
Er möchte auch mit Nennung seines Namens dazu stehen und lehnt die Verpixelung seines Bildes in den Medien ab.
Anklage wegen Tötung durch Unterlassen
Seit Januar 2018 muss sich Dr. Christoph Turowski vor einem Berliner Strafgericht wegen geleisteter Suizidhilfe verantworten. Jedoch nicht wegen der “aktiven Tat” des Verschreibens von potentiell tödlich wirkenden Tabletten. Diesbezüglich hatte ein Verwaltungsgericht in einem anderen Fall bereits 2012 ein Urteil (Urt. v. 02.04.2012, Az. VG 9 K 63.09) gefällt, welches erwartungsgemäß umstritten war, aber längst rechtsgültig ist: Danach darf es Ärzt_innen nicht generell verboten werden, sterbewilligen Patient_innen Medikamente für einen Suizid zu überlassen. Eine besondere persönliche Bindung zu einem Patienten könne einen Arzt in solche Gewissensnöte bringen, dass er Hilfe zur Selbsttötung leisten darf. Demzufolge musste die Berliner Staatsanwaltschaft hilfsweise ein anderes Delikt konstruieren und klagt Dr. Turowski wegen Tötung durch Unterlassen an. Dies gilt unabhängig vom Strafrechtsparagrafen 217, der erst 2015 in Kraft trat.
Im Prozess gegen Dr. Turowski, der am 1. Februar fortgesetzt wird, soll demnächst das Urteil erfolgen. Die Basis der Suizidhilfeanklage ist die Begleitung von komatösen Suizidenten beziehungsweise die Situation ihres Auf- oder Vorfindens, ohne Rettungsmaßnahmen veranlasst zu haben. Hieraus wird der paradoxe Vorwurf der Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, genau, wie dies im Hamburger Prozess im Dezember vorigen Jahres gegen den Arzt Dr. Johann F. Spittler der Fall war (wir berichteten ausführlich).
Nachwirkungen des Bundesgerichtshofurteils von 1987
Dr. Spittler wurde freigesprochen. Muss dies nun nicht ebenso für Dr. Turowski gelten? Die Berliner Staatsanwaltschaft sieht das anders. Sterbehilfe ist in Deutschland immer noch verboten, erklärt laut mdr-Magazin Brisant die Staatsanwältin Silke van Sweringen:
Für Tötung auf Verlangen stehen sechs Monate bis fünf Jahre.”
Bei der Tötung durch unterlassene Hilfeleistung eines Arztes beziehen sich die Staatsanwaltschaften auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes von 1987 (BGH, 04.07.1984 – 3 StR 96/84). Vor über 30 Jahren erhielt der Arzt Dr. Wittig nur deshalb – sozusagen zweiter Klasse – einen Freispruch, weil nicht nachweisbar war, ob seine hochbetagte Patientin nach deren Suizidversuch überhaupt noch hätte gerettet werden können. Seit diesem Urteil wird bis heute an einem inzwischen durch die Patientenverfügungsgesetzgebung überholten Grundsatz aus dem Strafrecht festgehalten: Zwar kann der Arzt, der entsprechende Tabletten aus besonderer Gewissensnot verschrieben hat, als “Ersttäter” entlastet werden – aber nur, wenn er seinen sterbewilligen Patienten dann bis zum Todeseintritt alleine lässt.
Auch für Angehörige, die einen Suizid begleiten, wird bis heute aus Juristenkreisen angeraten, spätestens vor Eintritt der Bewusstlosigkeit den Ort des Geschehens zu verlassen. Dabei wäre dies bei einer sorgfältigen Dokumentation der Willensfähigkeit und einer entsprechenden Patientenverfügung gar nicht mehr nötig, wie der Freispruch Dr. Spittlers zeigt. Es bleibt jedoch die quälende Unsicherheit bei den Ermittlungen, dem unter Umständen jahrelangen Warten auf einen Prozess. In diesem wiederum bleibt das Damoklesschwert des bisher nicht revidierten BGH-Urteils zur verpflichtenden Hinderung des Suizids, nachdem der Betroffene seine Willensfähigkeit durch Bewusstseinstrübung verloren hat.
Besondere Dramatik im Fall Anja D.
Dass Anja D. die 150 Schlaftabletten geschluckt hatte, erfuhr Dr. Turowski am 16. Februar 2013 von ihr per SMS. Der Hausarzt macht sich sofort auf den Weg in ihre Berliner Wohnung. Als er die erst 44-Jährige tief komatös auf dem Bett liegen sieht – den Abschiedsbrief auf dem Nachttisch – rief er keinen Rettungsdienst. Denn der Mediziner wusste, was auch Zeugen im Prozess eindeutig bestätigen: Anja D. wollte aufgrund einer schweren chronischen Darmentzündung unbedingt sterben. Das hatte sie mehrmals unmissverständlich mitgeteilt. Seit Jahrzehnten litt sie an starken Schmerzen. Kein Therapieversuch hatte je angeschlagen.
Doch der Suizidverlauf entwickelte sich anders als erwartet, was auch an möglicherweise unzulänglichen Medikamenten dafür lag: Anja D. wachte zwar nicht mehr aus dem tiefen Koma auf – doch der von ihr beabsichtigte schnelle Tod ließ drei Tage auf sich warten. Dr. Turowski besuchte die sterbende Patientin, die zu ihrem Hausarzt in 13 Behandlungsjahren ein großes Vertrauensverhältnis entwickelt hatte, täglich morgens, mittags und abends unter Einbeziehung von Familienangehörigen. Am dritten Tag erst stellte er um 4.30 Uhr den Tod fest.