Vom Ende der Geduld
Geduld sterbewilliger Patient_innen und staatliche Glaubwürdigkeit überstrapaziert
Fast nirgendwo gibt es eine so große Rechtsunsicherheit darüber, was am Lebensende wann wem erlaubt oder verboten ist, wie in Deutschland. Das stellt Prof. Gian Domenico Borasio fest, ein renommierter Vertreter der Palliativmedizin. Bei immer dringlicher werdendem Reformbedarf spielt der Staat auf Zeit und bedient sich fragwürdiger Mittel – ein Anlass zur Sorge um unser politisches System.
“Bitte haben Sie Verständnis, dass die Prüfung Ihres Antrags noch dauern wird“ so lauten sinngemäß die Bescheide des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) an Schwerstkranke, die einen Antrag zum Erwerb des tödlich wirkenden Natrium-Pentobarbital gestellt haben. Dabei beziehen sie sich auf eine gerichtlich eingeräumte Möglichkeit. Dem Tode nahe, leidende Menschen sind darunter. Manche sind bereits vor einem Jahr vorstellig geworden, einige inzwischen verstorben.
Die Zahl der Antragsteller_innen ist laut Spiegel aktuell auf gut einhundert Personen angewachsen. Einer davon ist Hans-Jürgen Brennecke. Er hat kein Verständnis und auch keine Geduld mehr. Er leidet unter einem schnell wachsenden Krebstumor, hat vor fünf Monaten ein Kuvert mit seinem Antrag an das BfArM nach Bonn geschickt. Darin begründet der schwerkranke 73-Jährige, warum er, wenn es für ihn unerträglich wird, freiverantwortlich selbst aus dem Leben scheiden will. Nun kämpft Brennecke nicht nur gegen den Krebs, sondern gleichzeitig gegen die Behörde – wobei er das Recht eindeutig auf seiner Seite hat.
Recht und Gesetz im Spannungsfeld
Grundlage dafür ist, dass Anfang März 2017 das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig
eine rechtsgültige Entscheidung traf – das heißt, dass keine Revision dagegen mehr möglich ist. Diese neue Rechtslage veränderte die Diskussion um humanes Sterben und Selbsttötung in unserem Land. Das Leipziger Urteil steht in einem Spannungsverhältnis zu dem umstrittenen Strafgesetz eines Suizidhilfeverbots, welches der Bundestag 2015 verabschiedet hatte. Darin sind bis zu drei Jahre Haft für die “Förderung der Selbsttötung” angedroht, worunter auch die nur wenige Male wiederholte Suizidhilfe von Ärzt_innen bei ihren Patient_innen fällt.
Der Staat, heißt es im Leipziger Urteil, dürfe aber in extremen Notlagen den Zugang zu einer todbringenden Arznei nicht verwehren. Die höchsten Verwaltungsrichter schrieben in ihrer verfassungsrechtlichen Begründung: “Der Einzelne ist insbesondere am Lebensende und bei schwerer Krankheit auf die Achtung und den Schutz seiner Autonomie angewiesen”. Demnach muss der Staat die selbstbestimmte Entscheidung eines Schwerstkranken auch zur eigenen Lebensbeendigung nicht nur achten, sondern er müsse sie ihm – in engen Grenzen – auch möglich machen! Dabei geht es laut Beschwerdefall, der diesem Urteil zugrunde liegt, konkret um die Bereitstellung des sanft und schnell zum Tod führenden Mittels Natrium-Pentobarbital (NaP). Dieses ist auch in der Schweiz das gebräuchliche Mittel der Suizidhilfe.
Staatliche Beschwörungen und misstrauische Bürger_innen
Nun bliebe in unserem Rechtsstaat einer Behörde wie dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eigentlich nichts anderes übrig, als einen obersten Verwaltungsgerichtsbeschluss umzusetzen. Ebendies wird jedoch mit allen Mitteln verweigert, insbesondere mit einer mehr als fragwürdigen Hinhaltetaktik. Untätigkeitsklagen von Antragsteller_innen vor Gericht haben bisher ihre Wirkung verfehlt. Sie werden etwa um weitere, angeblich zwingend erforderliche Unterlagen gebeten oder das Institut teilt ihnen mit, dass zuvor weitere externe Experten eingebunden werden müssen.
Niemand bestreitet, dass große Schwierigkeiten damit verbunden sind, eine Vergabeprozedur zusammen mit den Apotheken zu entwickeln. Dies geht übrigens auch in der Schweiz nicht immer reibungslos vor sich. Dort wird das Abholen von Natrium-Pentobarbital aus der Apotheke vom Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic – ein Institut ähnlich wie das Deutsche BfArM – überwacht. Allerdings werden in der Schweiz aufgrund bestehender Regularien praktikable Lösungen gefunden, während dazu in Deutschland der politische Wille nicht nur fehlt, sondern massiv entgegensteht. Niemals, so beschwören es vor allem christlich-konservative Politiker wie der jetzt für die Behörde zuständige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dürfe der Staat seine Hand zur Sterbehilfe reichen. Dieser Tabubruch dürfe nicht ein einziges Mal geschehen.
Noch scheint das Ende von Geduld und Verständnis nur bei den Betroffenen selbst erreicht zu sein – nicht aber in der breiten Bevölkerung. Inzwischen dämmert es allerdings immer mehr Bürger_innen, dass das verbissene Festhalten der politischen Klasse am Bestehenden im Einklang mit finanziellen Lobbyinteressen stehen könnte und dass ein Zusammenhang mit dem mangelhaften Ausbau von Palliativversorgung und Altenpflege zu vermuten ist. Jedenfalls stellt sich Misstrauen ein: Warum ist es eigentlich für die Politik eine so ungeheure Vorstellung, wenn der Staat an der Möglichkeit mitzuwirken hätte, dass ein Schwerstkranker sich selbst auf humane und sichere Weise töten kann?
Borasio: Umsatzkiller Palliativmedizin soll domestiziert werden
In den letzten zwei oder drei Lebensjahren wird mindestens ein Drittel der gesamten Ausgaben für die Gesundheit eines Menschen verbraucht. Sicher ist eine humane, dem Einzelfall angemessene Entscheidung über Chancen und Risiken beziehungsweise Nutzen oder Schaden zum Beispiel einer aggressiven Chemotherapie oft schwer, zumal bei den vielen mitunter auch jüngeren Patient_innen. Aber warum wird nicht im krankenkassenfinanzierten System grundsätzlich umgesteuert und einer horrend teuren, am Lebensende nur noch belastenden Übertherapie auf den Intensivstationen Einhalt geboten? Ist es denn gar nicht glaubhaft, wenn von allen politischen Parteien völlig übereinstimmend die segensreiche Hospizbewegung und Palliativversorgung als Alternative schöngeredet wird?
Ungeachtet dessen, dass auch international die Sterbehilfe-Diskussion unvermindert heftig weiter geht, haben wir es in Deutschland mit der Besonderheit in sich widersprüchlicher Regelungen zu tun. Prof. Dr. Gian Domenico Borasio, Europas bekanntester Palliativmediziner, spricht im Spiegel von einem global gesehen einzigartigen Schwebezustand, der in Deutschland herrsche. Dieser sei geprägt durch Rechtsunsicherheit bezüglich der Hilfe beim oder zum Sterben beziehungsweise zum Suizid, wozu auch der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit gehört.
Nun hat er in der Zeit unter der Überschrift „Durch Übertherapie sterben wir schlechter und früher“ sehr zugespitzt die Auswirkungen der Gesundheitsindustrie auf das Lebensende charakterisiert. Er beschreibt eine – unglaublich scheinende – „besonders schlaue Strategie“ des bestehenden Systems zur Domestizierung der Palliativ- und Hospizversorgung, nämlich ihre ethische Überhöhung:
„Die Palliativmedizin ist ein sehr politisches Fach, denn sie legt den Finger in die Wunden der modernen Medizin. Wir sind die Umsatzkiller schlechthin … Die Kehrseite der Übertherapie ist die Unterversorgung, auch durch mangelnde Pflege. Besonders gefährdet sind hier Hochbetagte und unterprivilegierte Menschen. … Das System versucht die Palliativmedizin zu domestizieren, ihre verändernde Kraft abzuschwächen und sie letztlich zu einem weiteren pharmafreundlichen, schmerzmittelverschreibenden Fach zu machen. … Eine weitere, sehr schlaue Strategie des Systems besteht darin, die Palliativmedizin als eine ethisch besonders hochstehende Disziplin darzustellen, sozusagen als die Gutmenschen-Medizin. Das führt zum einen zu einer schleichenden Marginalisierung und zum anderen unweigerlich zur bitteren Enttäuschung.“
Könnte es also sein, dass kirchenpolitisch gefärbte Ethik eine unheilvolle Allianz mit Wirtschaftsinteressen eingeht? Dazu noch einmal Prof. Borasio in der Zeit: „…die Lobbyisten sind sehr mächtig. … In Deutschland ist die Palliativmedizin zu weiten Teilen faktisch anästhesiert, also gewissermaßen betäubt.“ Und bereitwillig stimmen ihre Vertreter_innen zusammen mit den besonders lautstarken Funktionsträger_innen des Hospizbereichs ein in den Chor der Empörten. Würde das Urteil umgesetzt, müsste der Staat einem Schwerstkranken ja ermöglichen, sich selbst zu töten – entgegen aller hospizlichen und palliativmedizinischen Bemühungen, deren Wert damit angeblich in Frage gestellt zu werden droht.
Nichtanwendungserlass und Meinungsmanipulation als letzte Mittel
Das Urteil eines immerhin obersten Bundesgerichts stieß 2017 auf einhelligen Widerstand offizieller Seiten – von der Bundesärztekammer („Unverantwortliche Bürokratenethik“) über die Kirchen bis zum damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Dieser kündigte an, das Urteil unbedingt aushebeln zu wollen. Keine staatliche Behörde dürfe sich “zum Handlanger” der Suizidbeihilfe machen, so Gröhe, der in seiner Not ein Gutachten erstellen ließ. Darin wurde er vom Verfassungsrechtler Udo Di Fabio unterstützt, der tatsächlich empfahl, mit einem “Nichtanwendungserlass” das Urteil zu umgehen. Ein solcher scheint eher einer Exekutive mit diktatorischen Tendenzen vorbehalten zu sein. Tatsächlich aber sind Nichtanwendungserlasse in den Finanzbehörden gebräuchlich. Sie weisen dort die Verwaltung an, Grundsätze höchstrichterlicher Entscheidungen nicht auf vergleichbare Fälle anzuwenden. Hingegen lässt das Leipziger Urteil wohl keinerlei Interpretation zu, was den konkret entschiedenen Sachverhalt zur Vergabe von Natrium-Pentobarbital betrifft.
Zudem erhebt Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel den Vorwurf der versuchten Manipulation der öffentlichen Meinung. Für die überraschende Erstveröffentlichung des Rechtsgutachtens von Di Fabio habe das BfArM gezielt politisch nahestehende Medien benutzt. So wäre der Frankfurter Allgemeine Zeitung, die vorher das Leipziger Urteil stark kritisiert hatte, Di Fabios Gegengutachten vor der amtlichen Veröffentlichung zugesteckt worden – vermittelt über den damals zuständigen Minister Hermann Gröhe. Anfragen anderer Medien, darunter des Tagesspiegel, die kritischer über die Blockierungen durch das BfArM berichtet hatten, wären dagegen bewusst übergangen worden. Der Tagesspiegel ist erst nach einer Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht in den Besitz der behördlichen Unterlagen gelangt. Fazit des Tagesspiegel: „Das BfArM möchte sich weiterhin nicht in die Karten schauen lassen, wie es mit dem Urteil umgeht und wie der Stand der Verfahren ist.“