Das letzte Wort des Angeklagten Dr. Turowski
Bundesgerichtshof, Außenstelle Leipzig, 3.7.2019
Hohes Gericht! Sehr geehrter Herr Generalbundesanwalt!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
… erlauben Sie mir einen Rückblick und einige kritische Anmerkungen aus der subjektiven Perspektive von mir als Angeklagter. Was war mein Vergehen? Ich habe eine schwer leidende Frau, Anja D., in ihrem Suizid unterstützt und begleitet. Über 28 Jahre hat sie unter starken Schmerzen gelitten, hatte sämtliche Therapieverfahren erfolglos ausprobiert, hatte schon mehrere Suizidversuche hinter sich und war völlig verzweifelt. Als langjähriger Hausarzt kannte ich Frau D. gut. Sie war immer bei klarem Verstand und äußerte ihren Wunsch, aus dem Leben zu gehen, sehr entschlossen und wiederholt. Bei Verweigerung meiner Hilfe würde sie sich auf die Schienen der S-Bahn legen und eine schreckliche gewaltsame Selbsttötung vornehmen. Durch meine detaillierte Kenntnis der Persönlichkeit war ich überzeugt, dass sie dies auch tun würde.
Für mich als Arzt und Vertrauter von Anja D. war dies eine in höchstem Maße schwierige Konfliktsituation, wie sie in einer normalen Hausarztpraxis sicherlich nur sehr selten vorkommt. Was sollte ich tun? Ihr Ansinnen der Suizidhilfe von mir weisen und sie in den furchtbaren, einsamen Schienensuizid entlassen? So hätten sicherlich viele Ärzte reagiert. Aber als Mensch bin ich natürlich meinem Gewissen im Allgemeinen und als Arzt meinem ärztlichen Gewissen im Speziellen als Garant für meine Patienten verpflichtet. … Im Fall von Anja D. war der Suizidwunsch nachvollziehbar. Sie war bei klarem Verstand, war frei von psychischen Krankheiten und handelte wohlüberlegt. Es ging ihr um ein selbstbestimmtes Sterben in Würde. Daher war die Zustimmung zur ärztlichen Suizidhilfe für mich eine moralische Verpflichtung, eine Forderung des ärztlichen Gewissens und der Humanität und eine Forderung der christlichen Nächstenliebe. Dies sei gesagt an die Adresse der verschiedenen Kirchen und der sogenannten Lebensschützer.
Daher habe ich im Februar 2013 ein tödlich wirkendes Medikament verschrieben, um Anja D. ein würdiges Sterben in ihrem Zuhause zu ermöglichen. Einige Tage später hat sie diese Tabletten genommen, mich per SMS informiert und ist friedlich eingeschlafen. Ihr ausdrücklicher Wunsch war es, sie in ihrem Sterben zu begleiten und Rettungsmaßnahmen waren daher selbstverständlich verboten.
Einige Tage nach dem Tod von Anja D. wurde ein Ermittlungsverfahren vom Amtsgericht wegen Verdacht auf fahrlässige Tötung eingeleitet. Ich war erst einmal schockiert, denn 1. war zum Zeitpunkt meiner „Untat“ Suizidbeihilfe kein Straftatbestand. (Der unselige § 217 StGB trat ja erst Ende 2015 in Kraft). 2. hätte ich gegen den erklärten Willen meiner Patientin überhaupt keine Rettungsmaßnahmen einleiten dürfen. Sonst hätte ich mich strafbar gemacht nach dem Patientenverfügungsgesetz § 1901a BGB, das seit 2009 existiert. Daher war ich nach dem anfänglichen Schock recht optimistisch, dass bei dieser meiner Meinung nach völlig klaren Rechtslage, das Ermittlungsverfahren bald eingestellt werden würde. …
Aber ich hatte mich geirrt! 2 ½ Jahre nach dem Tod von Anja D. erhielt ich die Klageschrift. Die Formulierung war: Tötung auf Verlangen durch Unterlassen von Rettungsmaßnahmen. Daraus wurde aber im weiteren Prozessverlauf auf allen Schriftstücken unter Betreff: „Tötung auf Verlangen“ – „durch Unterlassen“ wurde weggekürzt. Das heißt, der Hörer bzw. Leser assoziiert erst einmal ein aktives Tun meinerseits, was ich heute noch als Stigmatisierung empfinde, da es unzutreffend ist. Dabei legen die Juristen bekanntlich außerordentlich großen Wert auf exakte Formulierungen! Nach meiner Meinung wäre die korrekte Formulierung der Anklage: “Tötung durch Unterlassen von Rettungsmaßnahmen bei Suizid“, wie es ja auch den Tatsachen entspricht.
Nach Zustellung der Klageschrift war es das primäre Anliegen meines Rechtsanwaltes Herrn Graefe und mir, eine langwierige Hauptverhandlung zu vermeiden, da keine strafbare Handlung vorlag. Nach mehreren Schriftsätzen zwischen Herrn Graefe und Landgericht respektive Staatsanwaltschaft entschied das Landgericht Berlin: „Die Eröffnung des Hauptverfahrens wird aus rechtlichen Gründen abgelehnt“. Ich war sehr erleichtert, aber die Freude währte nur kurz. Gegen diese Entscheidung legte ein zweiter Oberstaatsanwalt Beschwerde ein mit der Begründung, die ärztliche Pflicht zu Rettungsmaßnahmen würde den Suizidwillen meiner Patientin überwiegen.
Daher war die höhere Instanz, das Berliner Kammergericht gefragt und entschied: „Eine Hauptverhandlung ist vor einer anderen großen Strafkammer zu eröffnen.“ Im Januar 2018, also etwa 5 Jahre nach dem Tod von Anja D., wurde der Prozess eröffnet. Es waren ursprünglich 4 Termine angesetzt, es wurden aber 9 Verhandlungstage. Ein Riesenaufwand für eine rechtlich klare straflose Sache! Als unbescholtener Arzt, der nur dem berechtigten Wunsch seiner Patientin und seinem Gewissen folgte, wurde ich „vor den Kadi gezerrt“ und wegen der sehr großen medialen Aufmerksamkeit auch in die Öffentlichkeit. Das war und ist bis heute eine sehr starke psychische Belastung, die mich viele schlaflose Stunden und viel Kraft und Lebenszeit gekostet hat.
Durch das große Medienecho war die Resonanz überwältigend! Eine Riesenwelle der Zustimmung für mein Handeln bzw. der Empörung über die Anklage erhielt ich von ehemaligen Patienten, Mitarbeitern, Kollegen und zahllosen anderen Menschen u.a. auch über die Kommentarspalten der Medien. Dafür möchte ich allen Personen. die sich so geäußert haben, sehr herzlich danken. Für mich war dieser großartige Zuspruch und die Zeichen der Solidarität eine große Hilfe und Stärkung.
Am 8.3.2018 erfolgte das Urteil der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin: Der Freispruch. Wieder große Erleichterung bei mir und sofortige Revisionsankündigung von Seiten der Staatsanwaltschaft. Nach der stark verspäteten Zustellung des schriftlichen Urteils hoffte ich, dass die Anklageseite den Revisionsantrag wegen fehlender überzeugender Argumente zurückzieht. Aber auch hier hatte ich mich geirrt! … Allen Personen, die sich mit diesem Verfahren und dem von Herrn Spittler befasst haben, ist zunächst nicht verständlich gewesen, warum die Anklageseite bei recht klarer juristischer Ausgangslage die beiden Prozesse über mehrere Instanzen bis hierher zum BGH vorangetrieben hat. Damit hat sie über Jahre andauernde vernichtende Kritik auf sich gezogen. Für mich bleibt eigentlich nur die Erklärung, dass die Staatsanwaltschaft eine höchst-richterliche Entscheidung der ärztlichen Garantenpflicht beim bewusstlosen Suizidenten erzwingen wollte. Aber, braucht es da den Fall eines im Grunde genommen unschuldigen Hausarztes aus Berlin und den Fall eines integren, ehrenwerten Arztes aus Hamburg?!
Diese natürlich sehr wünschenswerte Intention der Anklageseite, das BGH-Urteil von 1984 bezüglich der ärztlichen Garantenpflicht beim Suizid endlich zu revidieren, wurde schon in einem internen Schreiben der Berliner Staatsanwaltschaft geäußert, bevor ich meine Anklageschrift erhalten habe. Daraus ergibt sich für mich die Frage: Warum kann unsere Justiz nicht ein Alt-Urteil, das in keiner Weise mehr zeitgemäß ist, auf einem kurzen Wege revidieren?! Warum mussten hier zwei Prozesse über alle Instanzen geführt werden? Beide Prozesse liefen über 6 ½ bis 7 Jahre, haben Unmengen von Arbeitskapazitäten verschlungen und damit dem Staat, also uns Steuerzahlern, enorme Kosten verursacht. Ganz zu schweigen von der allzu bekannten Überlastungssituation der Ermittlungsbehörden, der Gerichte und der Staatsanwaltschaften. Die persönlichen Belastungen von uns Angeklagten habe ich in meinen Ausführungen anklingen lassen….
Nun hoffe ich, dass mein Optimismus durch das heutige Urteil nicht enttäuscht wird. Dann hat sich der Aufwand letztendlich gelohnt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!