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Amtsgericht Siegen: PV zu vage 97-jährige muss künstlich ernährt werden

10. Nov 2008

Amtsgericht Siegen (Beschluss vom 28. September 2007, 33XVII B 710):

Der Fall:
Aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses vom 04.01.2002 wurde die betroffene Patientin geschlossen untergebracht. Zu diagnostischen Zwecken wurde ihr mehrmals mitgeteilt, wie alt sie sei dies hat sie bereits nach einer Minute wieder vergessen. Sie kann Dinge wie Brille, Hand, Kugelschreiber, Kopf und Glas benennen. Das Wiederholen von drei Wörtern (Auto, Blume, Kerze) gelingt nicht. Auch das Rechnen im Zahlenraum bis 10 gelingt nicht. Am 06.02.2002 wurde Frau N, als Betreuerin für die Betroffene bestellt.

Im Laufe der Zeit zeichnet sich eine fortschreitende Verschlechterung ab. Am 25.05.2007 benachrichtigt das Pflegeheim das Gericht davon, dass die Betroffene nicht mehr esse und trinke. Der Pflegedienstleiter des Heims, Herr D., gibt gegenüber dem Gericht an, der Arzt halte die Anlage einer PEG-Sonde für notwendig. Die Betroffene trockne sonst kurzfristig aus, gerade aufgrund der aktuell drückenden Wetterlage. Die Betreuerin habe ihre Zustimmung zur PEG-Anlage verweigert.

Der Hausarzt der Betroffenen erklärte gegenüber dem Gericht, die Betroffene sei seit dem 24.05.2007 in seiner Behandlung. Er kenne sie, mittelbar durch seine Kontakte mit dem Heim, aber schon länger. Seiner Ansicht nach handele es sich bei der Anlage einer PEG-Sonde nicht um eine “lebensverlängernde” Maßnahme im engeren Sinne, wie etwa Wiederbelebung, Beatmung oder ähnliches. Zurzeit gehe es vor allem darum, die Flüssigkeitszufuhr sicherzustellen. Aktuell äußere die Betreoffene den Wunsch zu sterben. Er habe aber auch gehört, dass sie immer mal wieder Phasen habe, in denen sie nichts trinke und sterben wolle, diese Phasen dann aber immer vorüber gegangen seien.

Es liegt, neben Notizen des Hausarztes aus früheren Jahren zu einem gewünschten Verzicht der Patientin auf künstliche Ernährung, eine Vollmacht vom Oktober 2000 für die Tochter (Jg. 1931) der Betroffenen vor. Dabei handelt es sich um eine notariell formulierte, wenig gelungene Willenserklärung mit wie dies von Notaren häufig zusammen aufgesetzt wird Passus einer Patientenverfügung. Dieser lautet wie folgt:

” Falls ich wegen Alters, Unfall oder Krankheit medizinisch behandelt werden muss, ist es mein unbedingter Wille, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen ergriffen werden, wenn ein menschenwürdiges Weiterleben nicht gewährleistet ist. Gleiches gilt für die Anwendung von Behandlungen und Verabreichung von Medikamenten. Meine Bevollmächtigte ist berechtigt, diesen vorstehend niedergelegten Willen rechtsverbindlich gegenüber allen hierzu Betracht kommenden Personen und Stellen, also insbesondere auch gegenüber behandelnden Ärzten, zu erklären.”

Nach Auffassung der 2002 eingesetzten Betreuerin, der 2.000 Bevollmächtigten und der aktuellen Verfahrenspflegerin entspricht die Versorgung der Betroffenen mit Nahrung und Flüssigkeit durch eine PEG-Sonde nicht dem Willen der Betroffenen. Doch demgegenüber fassen die Vormundschaftrichter des Amtsgerichtes Siegen den Beschluss, dass eine PEG-Sonde gelegt werden muss und es der Betreuerin verboten wird, die Versorgung durch diese abzubrechen.

In seiner Art bisher wohl einmalig ist die Begründung des Gerichtes:

Die vorliegende Willenserklärung lasse sich nicht konkret genug auf den vorliegenden Zustand der Patientin beziehen.
Dabei akzentuiert das Gericht, dass es damit keine Entscheidung gegen das Selbstbestimmungsrecht gefällt habe. Es vertritt vielmehr entschieden die Auffassung, dass es keinesfalls eine Reichweitenbeschränkung einer Patientenverfügung nur auf den Sterbeprozess gebe was zutreffend dann auch im Beschluss ausführlich begründet wird. Das Gericht geht vielmehr der Frage nach:
Welchen Wert hat eine notarielle Verfügung, mit der “lebensverlängernde Maßnahmen” ablehnt werden, wenn ein “menschenwürdiges Leben” nicht gewährleistet sei?
Damit, so das Gericht, sei die Willenserklärung durch “gleich zwei wertausfüllungsbedürftige, nicht konkret-handlungsanweisende Formulierungen” geprägt, die für die Willensbestimmung weite Auslegungen eröffnen. Bei nicht sicher feststellbarem (mutmaßliche) Willen habe aber die Pflicht zum Schutz des Lebens Vorrang.

Nachdem das Gericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben aufgelistet hat, kommt es zu dem Schluss:
“Ein nach diesen Vorgaben bindender, tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille der Betroffenen, wonach sie in ihrer jetzigen Situation keine Ernährung und Flüssigkeitszufuhr mittels einer PEG-Sonde wünscht, lässt sich indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen.”

Oliver Tolmein lobt in der FAZ vom Februar, dass die erst vor kurzem veröffentlichte Entscheidung aus Siegen “weitaus gründlicher” ausfällt als die meisten seiner Art:
“Während oft selbst Obergerichte und Bundesgerichtshof pauschale, klischeehafte Formulierungen ohne weitere Würdigung als unmissverständliche Anweisungen für einen Behandlungsabbruch nehmen, macht sich das Amtsgericht die Mühe, die spärlichen Anhaltspunkte auszulegen und zu unterscheiden zwischen den Mutmaßungen Dritter und substanziellen Anhaltspunkten für den mutmaßlichen Willen selbst “. (Quelle: Tolmein, “Wie erkennt man den mutmaßlichen Willen?”, FAZ vom 09.02.2008)

Bleibt die Frage: Hätte sich die Betroffene wohl diese Mutmaßungen des Vormundschaftsgerichtes gewünscht oder als Anmaßung Dritter zurückgewiesen?