Bundesverfassungsgericht schränkt Fixierung bei Zwangsbehandlung ein
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedingungen für eine erlaubte Fixierung vor allem von psychisch Kranken verschärft. Nunmehr soll bundesweit eine Fesselung sämtlicher Gliedmaßen ans Bett von absehbar mehr als einer halben Stunde vermieden werden beziehungsweise einer richterlichen Genehmigung bedürfen.
Die beiden Beschwerdeführer
Auch außerhalb der Psychiatrie werden verwirrte Krankhauspatient_innen zum eigenen Schutz am Bett festgebunden. Eine Fixierung trifft jedoch meist Patient_innen in der Psychiatrie – wie viele ist unklar und wird bundesweit nicht statistisch erfasst. Aber allein in Baden-Württemberg gab es laut Behördenangaben in den letzten Jahren bei Psychiatriepatient_innen solche Fälle im unteren vierstelligen Bereich.
Einer davon, an Schizophrenie erkrankt, der an Armen, Beinen und am Körper mit Gurten ans Bett gefesselt worden war (sogenannte Fünfpunktfixierung), hatte zusammen mit einem weiteren Betroffenen aus Bayern Klage wegen Verfassungswidrigkeit eingereicht. Der bayerische Beschwerdeführer war aufgrund starker Alkoholisierung zwangseingewiesen worden. Dort wurde er während acht Stunden mittels Siebenpunktfixierung neben den vier Gliedmaßen auch an Brust, Bauch und zusätzlich Stirn fixiert. Er konnte also auch den Kopf nicht mehr bewegen.
Die beiden betroffenen Männer aus Bayern und Baden-Württemberg waren gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht worden, ihre Fixierungen fanden auf Anweisung von Ärzten statt. Beide Beschwerdeführer machten geltend, die extremen, zur Bewegungsunfähigkeit führenden Maßnahmen hätten zumindest von einem Richter genehmigt werden müssen.
Das Urteil zur Fünf- bis Siebenpunktfixierung
Tatsächlich ist bundesweit nicht einheitlich geregelt, unter welchen Umständen Menschen, die sich in einem psychotischen Ausnahmezustand befinden, nach einer Zwangseinweisung fixiert werden dürfen. Nach baden-württembergischem Landesrecht und in Bayern (wo es gar keine Regelung gibt) kann eine ärztliche Anordnung dazu genügen. Nun sind beide Länder durch ein Urteil des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vom 24. Juli verpflichtet worden, innerhalb eines Jahres für verfassungsgemäße Regelungen zu sorgen.
Die beiden Beschwerdeführer erhielten Recht: Eine länger als dreißig Minuten dauernde Fünf- bis Siebenpunktfixierung von Psychiatriepatient_innen muss künftig gerichtlich genehmigt werden. Die Anordnung eines Arztes reicht nicht aus. Wird eine Fixierung in der Nacht vorgenommen, muss eine richterliche Entscheidung am nächsten Morgen nachgeholt werden. Zudem muss für die Zeit der Fixierung eine Eins-Zu-Eins-Betreuung durch qualifiziertes Pflegepersonal sichergestellt sein. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erkannte an, dass solche Fixierungen manchmal auch kurzfristig notwendig seien, wenn die Gefahr bestehe, dass der Patient/die Patientin sich oder andere gefährde. Doch stelle die Fesselung des Körpers für Patient_innen eine extrem drastische Form der Freiheitsentziehung dar.
Kommentar und Stellungnahme zur Menschenwürde in der Psychiatrie
Die Fixierung ist in den Gesetzen der Bundesländer geregelt. In diesem Verfahren wurden jetzt nur die Gesetze aus Baden-Württemberg und Bayern überprüft. Zudem sagte das BVerfG nichts aus über das Festgebunden-Sein unterhalb der Intensität einer Fünfpunktfixierung, also z.B. nur an den Armen. Behandelt wurde vielmehr lediglich die Bewegungsunfähigkeit am ganzen Körper, welcher sich die beiden Beschwerdeführer ausgesetzt sahen.
Das Urteil war überfällig, da eine völlige Fesselung unbedingt vermieden werden muss – wobei die Arbeit auf psychiatrischen Stationen dadurch sicherlich anspruchsvoller und zeitintensiver wird. Alle Bundesländer sind aufgerufen, bei der ohnehin bestehenden Freiheitsentziehung durch Zwangseinweisung in die Psychiatrie diese so auszustatten, das dort zumindest dieses Mindestmaß an Menschenwürde untergebrachter Patient_innen gewährleistet werden kann. Es ist davon auszugehen, dass es sehr große Unterschiede zwischen den psychiatrischen Kliniken gibt, was die Fixierrate und damit die Grundhaltung betrifft. Bei ein und demselben Anlass wird man in der einen Psychiatrie einige Tage fixiert und zwangsmedikalisiert, in der anderen zum Abreagieren mit in den Garten genommen. Ist die Fixierung in der Psychiatrie vielleicht so gut wie völlig überflüssig?
Dr. Martin Zinkler von der Ulmer Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik findet, dass Fixierungen nur in zwei Situationen in Frage kommen: 1. in Notwehrsituationen (Angriff des Patienten auf eine Person oder auf mehrere Personen, ohne ihn durch tatkräftiges Dazwischengehen davon abhalten zu können) und 2. in lebensbedrohlicher Situation für eine_n sich dagegen wehrenden Patient_in (wenn eine das Leben rettende Notmaßnahme anders nicht durchzuführen wäre).
Zinkler führt in seiner Stellungnahme zum BVerG-Verfahren aus: „Eine Selbstgefährdung, ein Verwirrtheitszustand, eine Sturzgefahr, eine bedrohliche Äußerung, eine Sachbeschädigung oder ein psychischer Ausnahmezustand – alle diese Situationen rechtfertigen m.E. keine Fixierung, jedenfalls nicht in einer psychiatrischen Klinik in Deutschland, wo es personelle Mindeststandards gibt. 1:1 Betreuung, intensive Beziehungsarbeit, Vertrauensbildung, nicht aus dem Auge Lassen, Essen anbieten, zusammen Tee Trinken, Schimpfen lassen, in den Garten gehen, ein Bad anbieten – sind geeignete Maßnahmen in solchen Situationen.“ Siehe weiter hier