Flüssigkeitsverzicht bei Palliativ-Patienten Quälerei oder Wohltat?
Quelle: Ärztezeitung vom 13.09.2005
Ist Flüssigkeitsverzicht bei Palliativ-Patienten Quälerei oder Respekt vor dem Willen der Sterbenden? Von Nicola Siegmund-Schultze
Zweieinhalb Monate nach der Diagnose einer Meningiosis carcinomatosa kam eine 52jährige Patientin in ein Hospiz. Als sie wegen zunehmender mentaler Einschränkungen selbständig nicht mehr genug essen und trinken konnte, verzichteten die Betreuer auf jegliche Form der künstlichen Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr.
Die Patientin sei gestorben, ohne erkennbar Durst gelitten zu haben, berichtet der Neurologe Dr. Johann F. Spittler vom Sozialmedizinischen Dienstes bei der Bundesknappschaft in Castrop-Rauxel (DMW 130, 2005, 171).
Ein Verzicht auf Flüssigkeit könnte das Leiden verstärken Die Entscheidung zum Flüssigkeitsverzicht habe dem Willen der Patientin entsprochen und sei auf Bitte der Familie und im Einverständnis mit dem Hospizpersonal getroffen worden. Aber dürfen Ärzte oder Pfleger das Leben eines unheilbar Kranken unter Umständen verkürzen, indem sie ihm keine Flüssigkeit zuführen? Verstärkt ein Flüssigkeitsverzicht womöglich die Leiden eines Menschen am Ende des Lebens?
Dehydratation erhöht Gefahr für Morphin-Intoxikation
Spittler hat dazu eine klare Meinung: Wenn ein Patient dem Tode nahe und eine Fehldiagnose ausgeschlossen ist und der Kranke für diesen Fall den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen gewünscht hat, sei es moralisch gerechtfertigt und juristisch korrekt, auf Flüssigkeit über Sonden oder Infusionen zu verzichten.
Eine Entscheidung gegen die Zufuhr von Flüssigkeit müsse sich primär an der Patienten-Autonomie orientieren und stehe im Einklang mit Urteilen höchster deutscher Gerichte sowie mit den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom Mai 2004. Darin heißt es, ein offensichtlicher Sterbevorgang dürfe nicht durch lebenserhaltende Therapie künstlich in die Länge gezogen werden.
Wann aber ist der Sterbevorgang offensichtlich? Spittler räumt ein, dass die Unsicherheit der Prognose eines der schwierigsten Probleme sei. Wenn auf Flüssigkeit über Sonden oder Infusionen verzichtet werde, sollten Ärzte, Pflegepersonal und Angehörige auch deshalb regelmäßig und sorgfältig auf Zeichen des Leidens, die auf Durst hinweisen, achten.
“Ein Leiden an Durst zu beurteilen, ist sehr schwierig bei palliativ-medizinisch versorgten Patienten”, sagt Dr. Michaela Werni von der Österreichischen Palliativgesellschaft. “Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse zur Frage, ob Dehydratation die Lebensqualität von Menschen in der letzten Phase ihres Lebens subjektiv beeinflusst und wenn ja, wie”, so Werni zur “Ärzte Zeitung”.
Entsprechend schwierig ist es auch, Menschen, die eine Patientenverfügung vorbereiten, oder deren Angehörige, qualifiziert zu diesem Thema zu beraten. Werni rät ebenso wie Spittler, bei der Aufnahme von Kranken in Hospize oder Palliativabteilungen von Kliniken, den Willen der Kranken zum Thema Flüssigkeitszufuhr zu ermitteln (“Ärzte Woche” vom 12. Mai 2005, Seite 6).
Die Palliativmedizinerin gibt allerdings zu bedenken, dass eine Dehydratation zu Niereninsuffizienz führen kann, verbunden mit dem Risiko einer Morphin-Intoxikation durch Akkumulation der schmerzstillenden Medikamente.
Außerdem rege eine restriktive Flüssigkeitszufuhr offenbar die Ausschüttung von Endorphinen an. Die Endorphin-Sekretion wirke zwar schmerzlindernd. Unklar bleibe aber, ob sie nicht auch durch Durstempfinden hervorgerufen werde und damit Ausdruck eines äußerlich vielleicht nicht erkennbaren Leidens sei.
“Schließlich muss man sich klar machen, dass Flüssigkeitsentzug lebensbegrenzend ist”, sagt Werni. Gut ernährte Erwachsene überleben ohne Flüssigkeit höchstens eine Woche, Kinder zwei bis drei Tage. “Zu uns sind schon todgeweihte Patienten gekommen, denen wir dann Ringer- oder physiologische Kochsalzlösung gegeben haben”, sagt Werni. “Nach kurzer Zeit waren sie wieder wach und ansprechbar.”
Am besten geeignet ist die intravenöse Flüssigkeitszufuhr
Am günstigsten sei die intravenöse Flüssigkeitsgabe. Wenn das nicht möglich sei, werde ein subkutaner Zugang in der oberen Körperhälfte gelegt, zum Beispiel unter dem Schlüsselbein oder am Oberarm. “Diese Maßnahme hat praktisch keine unerwünschten Wirkungen und kostet so gut wie nichts”, sagt Werni.
Ein subkutaner Zugang im Oberschenkel dagegen verursache häufiger Schmerzen, und die Flüssigkeit werde schlechter resorbiert als in der oberen Körperhälfte. Alle 24 bis 48 Stunden müsse die Kanüle gewechselt werden.
Keine klare rechtliche Lage
Der Verzicht auf intravenöse oder subkutane Flüssigkeitszufuhr tangiert die Bereiche Sterbehilfe und Patientenverfügung. Zu Patientenverfügungen hatte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wegen starker Kritik wieder zurückgezogen worden ist. Eine anschließende Bundestagsdebatte zu diesem Thema machte deutlich, dass mit einem solchen Gesetz vermutlich nicht in Kürze zu rechnen ist.
Ein Teil der Ärzte und Juristen hält die derzeitige Gesetzeslage sowie Empfehlungen der Bundesärztekammer jedoch für ausreichend, um auf Flüssigkeitszufuhr bei sterbenden, unheilbar Kranken zu verzichten. Künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr hätten sich am medizinisch begründeten Behandlungsziel zu orientieren.
Einige Moraltheologen betrachten dagegen künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr als unverzichtbare Mittel bei der Pflege selbst Schwerstkranker. (nsi)