Freisprüche bei zwei ärztlich assistierten Selbsttötungen rechtsgültig
Der Bundesgerichtshof (BGH) bestätigte am 3. Juli letztinstanzlich die Freisprüche von zwei Ärzten in den jeweiligen Suizidhilfe-Prozessen in Hamburg und Berlin. Dass die Mediziner sich somit rechtsgültig nicht strafbar gemacht haben, rief unterschiedliche Reaktionen hervor.
Zu entscheiden hatte der in Leipzig angesiedelte fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH). Erwartungsgemäß wies er die Revision der Hamburger und Berliner Staatsanwaltschaften gegen die von den Vorgerichten ausgesprochenen Freisprüche gegen Dr. Christoph Turowski im Berliner Fall und gegen Dr. Johann Friedrich Spittler im Hamburger Fall zurück. Dies schien im Prozessverlauf spätestens klar, als auch die Bundesanwaltschaft als Anklagevertreter beim BGH sich in ihren Plädoyers den Freisprüchen der Landgerichte Hamburg und Berlin angeschlossen hatte.
Beide „Untaten“ lagen bei den vorinstanzlichen Freisprüchen schon sechs Jahre zurück, so dass der erst 2015 eingeführte § 217 Strafgesetzbuch, der die Gelegenheit zur Suizidhilfe im Vorfeld bestraft, nicht zum Tragen kommen konnte. Die Ankläger hatten vielmehr jeweils die Suizidbegleitung als Tötungsdelikt durch Unterlassen gewertet, bei Dr. Turowski bei seiner langjährigen Patientin und bei Dr. Spittler bei zwei über 80-jährigen Seniorinnen, Mitglieder des Vereins SterbehilfeDeutschland.
Alle drei Suizidentinnen litten an schweren unheilbaren Erkrankungen, die ihre Lebensqualität dauerhaft stark einschränkten, ohne dass sie lebensbedrohlich gewesen wären. Ein absehbarer tödlicher Verlauf, der Voraussetzung für Palliativmedizin ist, lag nicht vor – und diese hätte ihre chronischen Leiden auch nicht bessern können. Sie nahmen die tödliche Dosis der Medikamente bewusst und freiwillensfähig selbst ein. Die beiden Ärzte waren, so der BGH, zurecht davon überzeugt, dass die Patientinnen sterben wollten. Deshalb versuchten sie nicht, sie zu retten, als bei ihnen der Zustand der Bewusstlosigkeit eingetreten war. Der BGH urteilte, die „Angeklagten waren nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet“ und eine in „Unglücksfällen obliegende Hilfspflicht“ sei nicht verletzt worden. Entscheidend sei, dass die beiden Ärzte zurecht keinen Zweifel gehabt hätten, dass alle drei Suizidentinnen sich ihren Freitod gut überlegt hatten und ihre Entscheidung nicht von einer psychischen Krankheit getrübt war. Keine Rolle spielte hingegen, ob ein Lebensende bei Todkranken bevorgestanden habe oder ob hospizliche Sterbebegleitung und palliativer Therapie einen gravierenden Unterschied zu den Geschehnissen darstellen würden.
Bisheriges BGH-Urteil von 1984 wird außer Kraft gesetzt
Die Staatsanwaltschaften der Berliner und Hamburger Vorinstanzen könnten die Revision vielleicht sogar deshalb angestrengt haben, um ein aktuelles BGH-Urteil zu erwirken. Das bisher rechtsgültige, aber nicht mehr als zeitgemäß erachtete datiert aus dem Jahr 1984 und sah vor, dass ein Suizid mit einem Unfall gleichzusetzen wäre. Danach konnte nach Eintritt der Bewusstlosigkeit auch eines freiverantwortlichen Suizidwilligen die sogenannte Tatherrschaft dann auf denjenigen übergehen, der als Garant zugegen war. Das hieß bis jetzt: Findet ein Arzt einen Menschen zum Beispiel nicht ansprechbar nach einem Unfall oder leblos im Bett liegend vor, muss er lebensrettend eingreifen. Das wäre seine Garantenpflicht. Grundlage dafür ist die richtige Annahme, dass Menschen leben und gerettet werden wollen.
Doch was, wenn der Mensch dem Arzt oder der Ärztin vorher immer wieder klargemacht hat, dass er sterben möchte? Hätte Dr. Spittler den Doppelsuizidversuch der beiden zusammenwohnenden Hamburger Seniorinnen dann gegen ihren in Patientenverfügungen dokumentierten Willen verhindern müssen? Oder wäre das laut Patientenverfügungsgesetz umgekehrt nicht eine unzulässige Körperverletzung? Und macht es einen Unterschied, wenn es wie bei Dr. Turowski der Hausarzt selbst war, welcher seiner sterbewilligen Patientin die Medikamente besorgt hat, die sie für den Suizid brauchte? Der Berliner Arzt hinterließ bei den Anwesenden im Gerichtssaal mit seinem „letzten Wort“ als Angeklagter einen bleibenden Eindruck.
Dr. Spittler erläuterte in seinem „letzten Wort“, dass von Politik, Parteien und Gesetzgeber keine humane Suizidhilferegelung zu erwarten sei – die Hoffnung in Deutschland liege einzig auf unseren Gerichten. So machte dann auch der BGH dankenswerterweise klar, dass Ärzt_innen Menschen, die in ihrem Beisein Freitod verüben, nicht ins Leben zurückholen müssen – unabhängig von Art oder Stadium ihres Leidens. Der Vorsitzende Richter des fünften BGH-Senats, Norbert Mutzbauer, verwies dabei auf die gesetzlichen Regelungen zur Patientenverfügung seit 2009. Der darin festgelegte Wille von Patient_innen, im Falle ihrer Entscheidungsunfähigkeit ärztliche Eingriffe in konkreten Situationen zu unterlassen, sei bindend, auch wenn dies dann zum Tod führt. „Entscheidend ist die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses“, begründete der Vorsitzende die BGH-Entscheidung.
Gegensätzliche Reaktionen – Kritik von Ärztekammern
Die Resonanz auf das Urteil war nach Medienberichten geteilt, wie hier der rbb berichtet: „Der Humanistische Verband Deutschlands begrüßte das Urteil. Es setze die `völlig überholte und widersinnige´ BGH-Entscheidung von 1984 zur Rettungspflicht bei freiwilligen Selbsttötungen endlich außer Kraft, erklärte der Verband. Der Verein Sterbehilfe Deutschland sprach von einer `epochalen Abkehr´ von der damaligen Entscheidung.“ Aber es habe, so der rbb, auch Ablehnung gegeben: „Rudolf Henke, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, kritisierte hingegen das Urteil. … Er fürchte, dass eine ‚schleichende Legalisierung des ärztlich begleiteten Suizids‘ problematische Signale in die Gesellschaft sende. Wer alt und krank ist, dürfe nicht Suizid begehen, mit dem Ziel, anderen nicht zur Last zu fallen. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisierte die Bestätigung des Freispruchs für den Berliner Arzt indes als unverständlich: `…aktive medizinische Hilfestellung sind keine Sterbebegleitung oder palliative Therapie … Der BGH hätte die Aufgabe gehabt, dies klarzustellen´, erklärte die Stiftung.“
Abgesehen von dieser abwägenden Meldung des rbb hoben zahlreiche Medien die überraschend massive Kritik des Urteils seitens namhafter Vertreter der Ärzteschaft hervor – allen voran von Bundesärztekammerpräsidenten Dr. Klaus Reinhard. Siehe dazu hier
Schon die Überschrift der Pressemitteilung des BGH zu seiner Entscheidung mag vielen Suizidhilfegegnern ein Dorn im Auge gewesen sein. Sie lautet: „Freisprüche in zwei Fällen ärztlich assistierter Selbsttötungen bestätigt“ – könnte dies doch der Öffentlichkeit suggerieren, dass damit ein Schritt zur vollständigen Legalisierung getan worden wäre. Doch das Fortbestehen des Straftatbestandes der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) bleibt durch das Urteil insofern unberührt, als wegen des strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes das Verhalten der Angeklagten (Jahre zuvor) daran nicht zu messen war.
Der abschließende Satz der BGH-Pressemittelung lautet: „Dass die Angeklagten mit der jeweiligen Leistung von Hilfe zur Selbsttötung möglicherweise ärztliche Berufspflichten verletzt haben, ist für die Strafbarkeit ihres Verhaltens im Ergebnis nicht von Relevanz.“ Dies könnte für die Bundesärztekammer (BÄK) besonders ärgerlich und ernüchternd sein. Denn Fachgesellschaften, welche ärztliche Lebensschutzpflichten und die Palliativ- und Hospizversorgung einseitig herausstellen, waren sich bisher bei staatlichen Stellen größter Anerkennung sicher. So wurden BÄK-Richtlinien zur Sterbebegleitung in der Vergangenheit in Urteilen höherer Gerichte auch schon als quasi rechtssetzend angeführt. Doch vielleicht könnte dies ausgerechnet bei der Bewertung der ärztlichen Suizidassistenz zukünftig nicht mehr der Fall sein.