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“Freitod-Tourismus” in die Schweiz: Organisation Dignitas weitet sich aus

10. Nov 2008

Quelle: NZZ am Sonntag, 20.06.2004 Schweizer Freitodorganisation jetzt auch im Aargau tätig

Das Problem des Freitod-Tourismus weitet sich aus der Ruf nach einer nationalen Gesetzgebung wird immer lauter. Jedes Verfahren, welches die Behörden nach Freitod eines Auswärtigen führen muss kostet die Stadt Zürich nach eigenen Angaben mindestens 3.000 Schweizer Franken. Nachdem Zürich eine Verschärfung des Gesetzes angekündigt hat, weicht die Sterbehilfeorganisation Dignitas in den Aargau aus: In Reinach hat sie in einem neuen Sterbezimmer zwei Ausländer in den Freitod begleitet.

von Markus Steudler “Der Anruf, der am 27. Mai 2004 im Bezirksamt Kulm einging, verhieß nichts Gutes: Man habe, meldete die Sterbehilfeorganisation Dignitas ordnungsgemäß, in Reinach an der Alten Aarauerstrasse einen 70-jährigen deutschen Staatsangehörigen in den Freitod begleitet. Den ausrückenden Beamten Bezirksamtmann, Bezirksarzt und einem Kantonspolizisten wurde vor Ort bald einmal klar, dass es nicht der letzte Einsatz an dieser Adresse gewesen sein dürfte. «Seit diesem ersten Fall wissen wir, dass diese Organisation in Reinach eine Wohnung gemietet hat», erklärt Bezirksamtmann Christoph Müller. Gewissheit erlangte er am 11. Juni, als das Telefon zum zweiten Mal klingelte. Diesmal war Dignitas im neu eingerichteten Sterbezimmer einer 45-jährigen Frau aus Kanada beim Selbstmord mit dem tödlichen Schlafmittel Natriumpentobarbital beigestanden.

Das Auftauchen der auf ausländische Sterbewillige spezialisierten Organisation löst in der 7.000 Einwohner zählenden Gemeinde Reinach Ängste aus. «Wir blicken dem mit großem Misstrauen entgegen», sagt Müller. In Zürich hatte Dignitas im September 1999 damit begonnen, in einer Mietwohnung Sterbewilligen beim Selbstmord zu assistieren. Seither ist die Zahl der von Dignitas in den Freitod begleiteten Ausländer von 3 (im Jahr 2000) auf 91 (2003) hochgeschnellt.

Zürich im Alleingang

Weil die Verfahren, die die Justiz nach jedem solchen Suizid führen muss, bei Ausländern besonders aufwendig sind beispielsweise sind die Hinterbliebenen als Zeugen weniger gut verfügbar und weil jedes dieser Verfahren den Staat 3.000 bis 5.000 Franken kostet, will man das Phänomen in Zürich nicht länger dulden. Da der Bund nicht handelt, beschreitet Zürich den gesetzgeberischen Alleingang: Der Staatsanwalt Andreas Brunner arbeitet derzeit zuhanden des Zürcher Justizdirektors, Markus Notter, einen Bericht aus, der ins erste kantonale Suizidhilfe-Gesetz der Schweiz münden soll (NZZaS vom 22. 2. 2004). Die «Lex Dignitas» sieht unter anderem eine Bewilligungspflicht für Sterbehilfeorganisationen und eine Beschränkung auf Sterbewillige mit Wohnsitz in der Schweiz vor.

Es ist nicht überraschend, wenn Dignitas im Hinblick auf die geplanten Restriktionen außerhalb des Kantons Zürich eine «Filiale» eröffnet. Dass dies in Reinach geschieht, könnte damit zusammenhängen, dass die bei Dignitas für die Aus- und Fortbildung zuständige Mitarbeiterin im acht Kilometer entfernten Leutwil wohnt. Bei Dignitas nimmt man zu den Fragen der «NZZ am Sonntag» keine Stellung, wie Geschäftsführer Ludwig A. Minelli erklärt. Das neue Sterbezimmer ist im unscheinbaren Anbau eines zweistöckigen Hauses mitten im Industriequartier untergebracht. Reklamationen etwa wegen vorfahrender Leichenwagen oder Polizeiautos hat es bisher nicht gegeben, wie der Reinacher Gemeindeammann Martin Heiz erklärt. Er verhehlt sein Unbehagen aber nicht. Nach der ersten Freitodbegleitung habe die Gemeinde Erkundigungen eingeholt. Nach dem zweiten Fall bestehe nun Handlungsbedarf. «Wir prüfen, ob es eine Betriebsbewilligung braucht», sagt Heiz. Am liebsten sähe man den unerwünschten Nachbarn wegziehen. «In jedem Fall erzeugen wir moralischen Druck», so Heiz.

Keine Eile bei Blocher

Etwas anderes können die Gemeindeoberen nicht tun. Das Strafgesetzbuch stellt die Beihilfe zum Selbstmord nur unter Strafe, wenn sie aus selbstsüchtigen Beweggründen geleistet wird. Respektieren die Sterbehelfer diesen Paragraphen, kann ihnen niemand etwas anhaben. Bezirksamtmann Müller, der die Rechtmäßigkeit der ersten beiden Freitod-Begleitungen derzeit prüft, will Dignitas die Arbeit aber möglichst schwer machen und das Gesetz «restriktiv handhaben». «Ich frage mich zum Beispiel, ob nicht ein selbstsüchtiger Beweggrund vorliegt, wenn jemand eine Wohnung mietet und somit jeden Monat die Aufwendungen für den Mietzins hereinbringen muss.»

Im Kanton Aargau will man analog zu Zürich nun auch «Maßnahmen prüfen», wie Hans Peter Fricker, der Generalsekretär des Departements des Innern, erklärt. Die einzig richtige Lösung des Problems da ist man sich in den betroffenen Kantonen einig wäre jedoch eine nationale Regelung. «Bern sollte schleunigst eine saubere Gesetzesgrundlage schaffen», fordert Bezirksamtmann Müller. «Dann hätten wir diesen Wildwuchs nicht mehr.» Die eidgenössischen Räte haben sich in den letzten Jahren trotz diversen Gelegenheiten geweigert, die Sterbehilfe generell stärker zu reglementieren. Auch Justizminister Christoph Blocher verspürt keine Eile. Immerhin klärt das ihm unterstellte Bundesamt für Justiz aufgrund eines parlamentarischen Vorstoßes derzeit, «welche Probleme sich stellen und wo Regelungsbedarf besteht», wie Sprecher Folco Galli sagt. «Das Bundesamt für Justiz wird Bundesrat Blocher nach den Sommerferien Vorschläge für das weitere Vorgehen unterbreiten.»