Innen-Ansichten des Bewohners (88) einer Seniorenresidenz : Mein fester Entschluss
Bemerkenswerter Leserbrief zum Beitrag “Ich habe genug” im evangelischen Magazin CHRISMON 22.3.2013.
Das Aprilheft enthielt einen Beitrag von Chefreporterin Christine Holch:Zur Suizidbegleitung und Lebenshilfe mit Interviewauszügen von Nikolaus Schneider (EKD), Gita Neumann (Humanistischer Verband Deutschlands) und anderen Akteur/innen:
Leserbrief online:
EINGETRAGEN AM 5. APRIL 2013 – 16:14.
Innen-Ansichten
Chrismon gebührt Dank und Anerkennung für den Artikel ICH HABE GENUG, in dem Christine Holch neben Fachleuten alte und kranke Menschen zu Wort kommen lässt, wie Letztere mit ihrem Leben umgehen. Mit meinen 88 Jahren gehöre ich zu dieser Gruppe. So interessiert mich natürlich, was Vertreter verschiedener Wissenschaften zu naheliegenden Fragen ausführen. Ein ähnliches Kompendium habe ich bislang nicht gefunden. Mein Interesse am Thema rührt von dem festen Entschluss her, eines Tages von eigener Hand aus dem Leben zu scheiden. Für diesen Gedanken werbe ich keinesfalls, wenn ich hier berichte, welche Beobachtungen, Erfahrungen und Überzeugungen meiner Absicht zugrunde liegen.
Vor vier Jahren ist meine Frau gestorben. Wir waren über 55 Jahre glücklich miteinander. Während der frühen Ehejahre sah es kurze Zeit so aus, als würden die Weltmächte nochmals einen Krieg anfangen. Damals haben wir ernsthaft darüber nachgedacht, ob wir den erleben wollten. Wir hatten doch schlimme Erfahrungen gerade hinter uns. Nach dem Tod meiner Frau bin ich wie vorher verabredet vor vier Jahren in die Stadt gezogen, in der unsere Kinder leben und wohne jetzt ganz in ihrer Nähe in einer Senioren-Residenz. Zwar entsteht mit einem solchen Ortswechsel und dem Wechsel der Lebensweise ein schmerzhafter Bruch. Aber der hat meinem Entschluss nicht ausgelöst, sondern allenfalls mich bestärkt. In der konfessionell nicht gebundenen Einrichtung für etwa 250 Menschen tun die Mitarbeiter alles, was uns hilft, mit körperlichen, geistigen und seelischen Schwächen fertig zu werden. In der neuen Gesellschaft beobachte ich täglich nolens volens den allmählichen Verfall der Lebenskraft an den vielen Altersgenossen und die Reaktion ihrer Umgebung. Ich gewinne auch neue, vertiefte Einsichten in Strukturen und Hierarchien. Mit diesen Innen-Ansichten setze ich mich von den Verfassern ab, die in hübschen Artikeln erzählen, wie jüngere Mitmenschen mit Oma oder Opa umgehen. Sie können uns nur von außen her beurteilen, nämlich aus dem Besucher-Blickwinkel. Die gegenseitigen Rollenverhalten sind dabei längst festgelegt. Das Zusammenleben in einem Altenheim kann man vorher nicht trainieren; es steckt voller Überraschungen. Die erste Beobachtung: Nur relativ wenige Bewohner sind nach Laien-Beurteilung gesund. Nach der schwierigen Eingewöhnungszeit gewinnen fast alle Neuen erste Kontakte in meist kleinen Gruppierungen. Man geht z.B. zur gleichen Zeit zum Essen oder zum Kaffee, erzählt sich Herkommen, Beruf, Krankheiten und Interessen, auch von Kindern und Verwandten ist die Rede. Gibt es Enkel, und wie oft kommt Besuch? All das war im früheren Lebenskreis weithin bekannt, jetzt aber spielen die Selbstdarstellungen eine große Rolle. Kleidung, Schmuck und Auftreten beleben den Klatsch. Damals sind wir allmählich älter geworden, hier aber sind wir definitiv alt.
Meine zweite Beobachtung: Wir wollen ein paar Wahrheiten nicht gelten lassen. Unser Charakter spitzt sich zu, wir werden leicht herrischer, ungeduldiger oder starrsinnig. Einige flüchten in heftige Betriebsamkeit. Andere dagegen lassen alles mit sich machen, scheinen keinen eigenen Willen mehr zu haben. Ein paar lassen sich so weit gehen, dass sie die Körperpflege vernachlässigen und Mitbewohnern und Pflegern zur Last werden. An anderen amüsiert uns, dass sie die gleichen Geschichten wieder und wieder erzählen. Formen der Fehlentwicklung treten manchmal überraschend schnell auf. Mache ich manches schon längst mit, aber niemand sagt mit das? Unser Gangbild zum Beispiel verändert sich besonders deutlich. Sind wir vorher aufrecht gegangen, so wird eines Tages ein Stock notwendig, vielleicht ein zweiter. Dann folgt der Rollator, danach der Rollstuhl. Wir beobachten diese Abwärtsstufen gegenseitig und kommentieren alle Veränderungen, besonders wenn jemand in die Pflege-Abteilung umziehen muss. Vielleicht verlieren wir durch diesen Umzug die vertraute Gesprächspartnerin oder den Partner. Natürlich bietet das Haus viele Formen der Geselligkeit an, so dass niemand, der sich aufrafft, Langeweile empfinden muss. Nicht wenige Hausbewohner ziehen sich jedoch ganz zurück. Sie meiden alle Kontakte und werden bald vergessen. In diesen Zusammenhang gehört, dass unsere Population selbstverständlich einem viel rascheren Wechsel unterworfen ist als jede, in der wir früher gelebt haben. Nur selten erfahren wir gleich die Todesfälle. Sie werden im Aushang nur bekannt gemacht, wenn jemand das gewünscht hatte. Über andere hören wir nur durch Mitbewohner, dass sie ins Krankenhaus gekommen seien. Das Personal darf keine Informationen weitergeben. Übrigens wohnen bei uns 80% Frauen und 20% Männer.
In unserer Mitte leben relativ viele Menschen, die mehr oder weniger stark in die Demenz gesunken sind. Ihnen noch eine Weile beizustehen ist sehr schwer, bald wird es unmöglich. Nach und nach wenden wir uns ab und leiden auch darunter, nichts mehr tun zu können. Ich beobachte gelegentlich, dass über wenig beliebte Menschen Witze gerissen werden, und niemand hält den Rüpeln die Gedankenlosigkeit vor. Die Demenz-Kranken haben wie wir ein langes Berufsleben hinter sich, waren sicher angesehen und erfolgreich, könnten von ihrer Lebensleistung sprechen und von der Zuwendung, die ihnen zuteil geworden war. Nichts von alledem ist mehr sichtbar. Diese Kranken geben ein trauriges Bild ab. Sprechen wir sie an, kennen sie uns nicht mehr. Die dementen Patienten habe ich besonders erwähnt, weil sie nichts mehr von sich geben. Das Gegenbild dazu sind die wie ich gesunden Bewohner und die, die mit Behinderungen und Krankheiten gut umgehen können. Sie treten hervor durch Teilnahme an vielen Veranstaltungen, an Initiativen und auch an kritischen Beiträgen. Man kann sagen, dass an ihnen in erster Linie das Ansehen des Hauses festzumachen ist. Aus unserem Kreis höre ich aber auch Urteile über Kranke, besonders über Demente, über Krankenhaus-Patienten und über Verstorbene: Für A wäre es besser . . ., für B war es besser, für C wurde es Zeit, oder für D das ist doch kein Leben mehr . . .. Solche und andere Beobachtungen kann ich mit Sohn und Schwiegertochter erörtern. Wir sehen uns in der Regel einmal in der Woche, insofern darf ich mich als privilegiert betrachten. Ein so enger Kontakt ist selten.
Womit begründe ich also den eingangs erwähnten Entschluss, eines Tages mein Leben zu beenden? Es gibt keinen Termin dafür. Es gibt nur die Gewissheit, dass meine heute noch vorhandenen Lebenskräfte mit Sicherheit immer mehr abnehmen werden und sich das eine oder andere Leiden einstellt, das mein Leben bis zur Unerträg-lichkeit verändern kann. Vorstufen dazu sind mir aus zwei schweren Opera-tionen geläufig. Neue Erfahrungen brauche ich also nicht. Am schlimmsten waren nicht die Schmerzen, sondern meine Hilflosigkeit und die vollkommene Abhängigkeit von pflegenden Menschen, die sich so viel Mühe gegeben haben. Dieses Ausgeliefertsein hat mich damals lange Zeit bis in schlimme Träume verfolgt. Wird mir vielleicht eines Tages eine beginnende Demenz bewusst, dann ist mein Ende nahe. Weder hier im Hause noch in meiner Familie spreche ich über dieses Thema. Ich bin nicht krank am Leben, und vor dem Sterben fürchte ich mich nicht. Zwei Ärzte in zwei Städten haben mir auf meine Fragen hin das gleiche, einfache Mittel und seine Anwendung genannt. Ich werde so leise gehen wie ich gekommen bin. Wie die meisten Altersgenossen wünsche auch ich mir, dass der Tod über Nacht kommen möge, und ich bitte Gott immer wieder um den raschen, schmerzlosen Tod. Was der Herr mir schickt, das kann ich nicht wissen. Je älter ich werde, umso fremder werden mir die Lehren mancher Kirchen-Oberen über das Recht zum Suizid. Meine Nachfahren und meine Freunde sollen mich, wenn ich sie ohne ein Wort verlasse, in Erinnerung behalten als einen, der ihnen und dem Leben zugewandt, und der sehr lebendig war. Zum Schluss wiederhole ich mich: Mein Standpunkt ist kein Plädoyer, es mir gleichzutun.