Lebensschutz für COVID-19-Schwerstkranke und Risikopatient*innen über alles?
In der Debatte um schrittweise zu lockernde Zwangs- und Notmaßnahmen in der Corona-Krise werden zunehmend Prioritäten hinterfragt und Grundrechte wieder eingefordert. Dazu gehört neben der verfassungsrechtlich unantastbaren Menschenwürde die Patientenautonomie, zwischen maximaler Intensiv- und lindernder Palliativmedizin selbst wählen zu dürfen.
Im Vergleich mit vielen anderen Ländern, in denen etwa Massengräber ausgehoben werden müssen, stehen wir in Deutschland relativ gut da. Sicher verbreitet sich auch hier das Virus weiter, es gibt „Corona-Tote“ und es erleiden viele hunderttausend Bürger*innen den Verlust ihrer Arbeit und Einbruch ihrer Einkünfte, von den Auswirkungen für die Altenpflege, Kinderbetreuung und Schulausbildung ganz zu schweigen. Zuvor wurde mit der Ansage „Es geht um Leben und Tod“ jede kritische Stimme gegen den fast totalen Stillstand im Keim erstickt – selbst wenn sie von einflussreichen Wirtschaftsvertretern kam.
Aktuell gibt es vermehrt Meldungen zu durchaus tödlichen Auswirkungen des Stillstands selbst, etwa einer unvorstellbaren Hungerkatastrophe im östlichen Afrika, weil dort die seit Jahrzehnten verheerendste Heuschreckenplage wegen des Corona-bedingten, militärisch überwachten Transportmittelstopps nicht mehr erfolgreich bekämpft werden kann. Aber längst wird auch hierzulande vor lebensbedrohlichen Spätfolgen gewarnt. Diese drohen chronisch kranken Menschen, die wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Widrigkeiten nicht nur auf Operationen, sondern auch auf Vor- und Nachsorgebehandlungen verzichten müssen oder von sich aus ängstlich die Arztpraxen meiden. Der Virchow-Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands warnt eindringlich und meint etwa bei Schlaganfällen und Herzinfarkten feststellen zu können: „Verschleppte Krankheiten sind oft gefährlicher als Corona“.
Verhältnismäßigkeit zwischen Freiheit und Sicherheit
Der Widerstand dagegen, dem Schutz des von Corona bedrohten Lebens alles andere unterzuordnen, nimmt zu, hat die verfassungsrechtliche Debatte erreicht und wird anhand der Fragestellung „Freiheit oder Sicherheit – was zählt mehr?“ geführt. Unter dieser Überschrift zeigt sich im Spiegel-Interview der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, besorgt über die aufgrund der Pandemiebekämpfung gefährdeten Freiheitsrechte. Er vertritt die Auffassung, dass deren weitestgehende Einschränkung durch den Gesundheits- und Lebensschutz nicht als verhältnismäßig zu rechtfertigensei. Papier weist gleichzeitig den Vorschlag des Tübinger Politikers Boris Palmer zurück, Risikogruppen, darunter vor allem Senior*innen ab einem Alter von etwa 65 Jahren, zum eigenen Schutz – ob sie selbst das wollen oder nicht – in Quarantäne zu isolieren. Dafür solle dann, so Palmer, für alle anderen das öffentliche Leben wieder in Gang kommen – zumal auch der wirtschaftliche Niedergang tausende Armutsopfer fordern würde. Diesen provokativ vorgetragenen Vorstellungen hält der Verfassungsrechtler Papier entgegen: „Gebote oder Verbote allein auf bestimmte Altersgruppen oder auf Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen zu beziehen, wäre außerdem eine ungerechtfertigte Diskriminierung“.
Viel beachtet hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der sich selbst zur „Hochrisikogruppe“ zählt, es im Tagesspiegel-Interview auf den Punkt gebracht: „Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.”
Das Schreckensszenario einer Triage
Durch den ebenso gigantischen wie plötzlichen Ausbruch der Seuche ist alles andere in den Hintergrund oder sogar zunächst in Vergessenheit geraten: Die Kriege, die Not der Flüchtlinge, der Hunger, die Gewalt – obwohl alle Krisen durch das Corona-Virus noch viel dramatischer werden. Und selbst der Klimawandel scheint nicht mehr im Zentrum engagierter und sorgenvoller Aufmerksamkeit zu stehen, denn diese Herausforderung kommt eben doch langsamer daher. Lebensbedrohliche Auswirkungen, die sich schleichend annähern, selbst wenn sie gravierender wären als die Pandemie, lösen nicht dieselbe Art von Panikgefühl aus.
Angesichts von Horrorszenarien in einigen Ländern des Westens stellte sich die schreckliche Frage: Wer soll wie den Zugang zu Beatmungsplätzen regeln, wenn sie nicht mehr für alle lebensbedrohlich an COVID-19-Erkrankten ausreichen? Vor allem in Italien war dieser gefürchtete Zustand greifbar nahe. Er wird mit dem aus dem Französischen stammenden historischen Begriff Triage bezeichnet, zu Deutsch “sichten” oder “sortieren” bei knappen Ressourcen, vor allem auf Schlachtfeldern des Krieges oder auch bei lokalen Naturkatastrophen, und bedeutet die Auswahl von Erkrankten oder Verletzten – und zwar ausschließlich nach Gesichtspunkten wie Dringlichkeit oder Überlebenschancen.
Wie sollte demnach in den Kliniken darüber entschieden werden, welche Patient*innen sterben müssen, weil man aus Kapazitätsgründen nicht alle Bedürftigen mit einer schweren Lungenentzündung beatmen kann? Sollen die Ärzt*innen etwa der Mutter kleiner Kinder Vorrang einräumen vor einer achtzigjährigen Seniorin? Dabei spielt bemerkenswerterweise das Patientenrecht auf Selbstbestimmung, eine Behandlungsmaßnahme abzulehnen beziehungsweise freiwillig darauf zu verzichten, keine Rolle mehr – obwohl anschließende Lebensqualität und vor allem auch die Abwendung des Todes überhaupt nicht sicher vorherzusehen sind.
Es schien zwischenzeitlich vergessen gewesen zu sein, dass auch in den Corona-bedingten Situationen Patientenverfügungen oder Notfallbögen ein naheliegendes und zudem verbindlich zu beachtendes Entscheidungsinstrument für Ärzt*innen sind. Dies wird erst in den letzten Wochen wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt, wie etwa durch den Arzt Thomas Sitte, Vorstandsmitglied der Deutschen PalliativStiftung, der anmahnt und fordert: „Wenn jemand hochbetagt und multimorbide im Pflegeheim lebt, sollte noch vor einer Triage überlegt werden, ob der Patient überhaupt eine Maximaltherapie mit obendrein extrem schlechten Überlebenschancen möchte.“
Früher Palliativpatient*innen, heute Intensivpatient*innen
Man sah die Bilder auch aus Spanien und Frankreich, wo es keine freien Plätze mehr auf der Intensivstation gab und COVID-19-Patienten auf überfüllten Krankenhausfluren lagen. Ein solcher Ernstfall, sollte er eintreten, erscheint uns weit grausamer als andere folgenschwere Verteilungs- und Abwägungskonflikte, in denen es nur statistisch messbar um ökonomische, psychische oder medizinische Risiken mit erhöhter Todesrate geht. Unmittelbar sichtbares Sterbenlassen durch Auswahlentscheidungen hat für uns eine andere Entsetzensdimension. So diskutierte dann auch Deutschland über eine Priorisierung bei medizinischen Hilfeleistungen im Katastrophenfall, das heißt deren Abstufung nach dem Vorrangigkeitsprinzip.
Die politischen Anstrengungen, die Infektionskurven abzuflachen, sind zu Anfang der verzweifelte Versuch gewesen, Todesfälle durch Versorgungsdefizite zu vermeiden. Zusätzliche Intensivbetten wurden in den Kliniken organisiert und aufgestellt, zum Beispiel in extra dafür stillgelegten Operationssälen – bei Zurückstellung nicht dringend nötiger Operationen bei anderen Erkrankungen. Die Politik hat ihre Notfallpläne stark auf die Intensivbehandlung und das Kaufen neuer Beatmungsgeräte ausgerichtet. Bemerkenswerterweise ist vom Ausbau der palliativen Versorgung für Schwerkranke und Sterbende jedoch nicht die Rede gewesen. Dabei gab es in Deutschland eine insgesamt privilegierte Ausgangsausstattung mit regulär 34 Intensivbetten (die allerdings nicht schon alle mit hochtechnologischen Beatmungsgeräten ausgerüstet sind) pro 100.000 Einwohner*innen – in Großbritannien stehen 7 und in Kenia 0,26 entsprechende Betten zur Verfügung. Es mangelt allerdings nicht erst seit heute an qualifiziertem Personal. Zudem müssen die Klinikmitarbeiter*innen sehr viel Erfahrung mitbringen, denn eine durch COVID-19 ausgelöste Lungenentzündung ist besonders tückisch.
Kein Mensch muss heute mehr ersticken
Es gibt Mediziner, vor allem aus dem Bereich der Palliativversorgung, welche die bevorzugte intensivmedizinischen Behandlung von schwerkranken COVID-19-Patient*innen, zumal wenn Patientenautonomie und -wohl damit zurückgestellt werden, als höchst kritisch und ethisch bedenklich bewerten. Zu ihnen gehört Matthias Thöns, Facharzt für Notfall- und Palliativmedizin. Im Deutschlandfunk gibt er zu bedenken, dass es sich bei den Betroffenen „meistens um hochaltrige, vielfach erkrankte Menschen handelt, 40 Prozent von ihnen kommen schwerstpflegebedürftig aus Pflegeheimen, und in Italien sind von 2.003 Todesfällen nur drei Patienten ohne schwere Vorerkrankungen gewesen. Also es ist eine Gruppe, die üblicherweise und bislang immer mehr Palliativmedizin bekommen hat als Intensivmedizin, und jetzt wird so eine neue Erkrankung diagnostiziert und da macht man aus diesen ganzen Patienten Intensivpatienten.“
Thöns betont, dass wir aufzupassen haben auf die Patient*innen, die in Pflegeheimen leben, um dort das Virus nicht einzuschleppen, und ansonsten absichern müssen, dass die Bewohner*innen nicht womöglich an Erstickungsnot leiden – wenngleich einige auch sterben werden, dann aber fürsorglich begleitet. Und schließlich lautet seine gute Nachricht: „Atemnot zu lindern ist für einen Palliativmediziner, wie ich es bin, eben total simpel, das ist einfach möglich. Kein Mensch muss heute mehr ersticken. Also wir müssen die Menschen nicht beatmen, damit die nicht ersticken, sondern Palliativmedizin kann das sehr leidlos gestalten.“ Womit jedenfalls die Menschenwürde – auch im Sterben – gewahrt bliebe.