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Nach Kippen des § 217 – keine Änderungen in der Praxis?

14. Jul 2020
Gita Neumann, Dipl.-Psych. Redakteurin des Newsletters Patientenverfügung gita.neumann@humanismus.de

Für suizidwillige Patient_innen hat sich in Bezug auf ihre Ärzt_innen zunächst so gut wie nichts getan. Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) präsentierte einen Gesetzentwurf mit konkreten Neuregelungen, welche die Patientenautonomie hervorheben und in der Praxis durchsetzen sollen. Darüber und über einen Gegenentwurf von vier Hochschulprofessoren wird es im August jeweils ein öffentlich zugängliches Videogespräch geben – mit der FDP-Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, welche das parlamentarische Verfahren in liberaler Richtung in Bewegung bringen will.

Im Februar/März kam Corona – gerade war das strafrechtliche Verbot der Suizidhilfe gekippt.Es gibt aber zu einer Veränderung bisher nur diese eine wichtige Meldung des „Vereins Sterbehilfe“: Durch ihn wurde erstmals völlig legal einem Pflegeheimbewohner zum Freitod verholfen – gut drei Monate nach dem spektakulären Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Seitdem habe man, gibt Vereinsgeschäftsführer Jakub Jaros in der taz an, über diesen speziellen Fall hinaus deutschlandweit 24 mal Mitgliedern Suizidhilfe geleistet – ausschließlich mithilfe von „ihren“ (mit dem Verein kooperierenden) Ärzt_innen und Apotheker_innen zwecks Begutachtung und Beschaffung der notwendigen Medikamente.

Währenddessen gründeten der Sterbehilfeverein Dignitas Deutschland und die Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) eine gemeinsame sogenannte Suizidversuchs-Präventionsberatung, die an Wochentagen jeweils zwei Stunden telefonisch zu erreichen ist, um vor allem „kurzschlüssige und riskante Suizidversuche zu verringern“. Von den beiden Organisationen wird, wie hier vom Dignitas-Generalsekretär (und -Gründer) Ludwig A. Minelli, jegliche Neuregelung als gesetzliche Begrenzung der Freiheit abgelehnt oder deren Notwendigkeit (wie hier von der DGHS) zumindest stark in Zweifel gezogen. Paradoxerweise stellt die DGHS dabei gleichzeitig fest, dass sich ohne den (auch rechtlichen) Rückhalt konkreter Verfahrenskriterien weiterhin kaum ein Arzt oder eine Ärztin zur konkreten Suizidhilfe bereitfindet – selbst, wenn sie diese moralisch prinzipiell nicht ablehnen.

HVD-Vorschlag für suizidwillige Patient_innen und hilfsbereite Ärzt_innen

Dass dem so ist, entspricht dem Fehlen entsprechender Medienberichterstattung und Praxiserfahrung trotz der völlig veränderten Rechtslage. Eher mit oberbayerischem Lokalkolorit verbunden mutet diese Beschreibung der br Kulturnachrichten eines aktuellen Einzelfalls ärztlicher Suizidhilfe-Bereitschaft an, nämlich des 72jährigen Hausarztes Anton Wohlfart (Bewertungen seiner Patient_innen: „Der perfekte Hausarzt … vereint fachliche Kompetenz, Herz und Hirn … nimmt sich immer Zeit und hört zu … das Gegenstück zur kaltherzigen Abfertigungsmaschinerie der meisten Kollegen“). Von ihm auch geleistete Hilfe zur Selbsttötung ist dabei gar nichts Neues, vielmehr war Dr. Wohlfart schon im März 2015 (!) einer von nur drei praktizierenden Ärzten, die der ZEIT-Redakteur Martin Spiewak damals nach mühevoller Recherche als „Tabubrecher“ hatte ausfindig machen können.  

Die Verantwortung zur Prüfung der Freiwillensfähigkeit, Nachhaltigkeit und Wohlinformiertheit über lebenszugewandte Alternativen von Suizidwilligen kann nicht nur auf den Schultern der Ärzt_innen und ihrem Zeitbudget lasten. Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hat dazu ein umfassendes Sondergesetz zur Bewältigung von Suizid(hilfe)konflikten “Suizidhilfekonflikt-Gesetz“ des HVD ausformuliert und vorgelegt. Kernaufgaben, Personalausstattung, Grundhaltung und Leistungsspektrum von entsprechenden Beratungsstellen sind dort detailliert ausgeführt, basierend auf der HVD-Praxiserfahrung im Sozialbereich, vor allem des Landesverbandes Berlin-Brandenburg.

In Übereinstimmung mit anderen Organisationen aus dem humanistisch-säkularen Spektrum wie der Giordano-Bruno-Stiftung geht der HVD-Vorschlag dabei von folgenden individualethischen Grundsätzen aus:

  • Kein neuer nunmehr angeblich „verfassungskonformer“ § 217 als Tötungsdelikt im Strafgesetzbuch
  • Kein neues Verbot der Suizidhilfe, um damit Ärzt_innen, welche rigideste Überprüfungspflichten und Dokumentationsverfahren nicht hinreichend beachtet haben, oder Vereinen oder allen nicht-ärztlichen Sterbehelfer_innen Gefängnisstrafen anzudrohen
  • statt psychiatrischer Zwangsbegutachtungen und Pflichtberatungen Angebote zu freiwillig wahrzunehmenden, ergebnisoffenen Gesprächen in Suizid(konflikt)-Beratungsstellen

Nur schwer ist in Abrede zu stellen, dass der Bundestag für die lange genug verunsicherten, strafbedrohten und in diesem Bereich völlig unerfahrenen Ärzt_innen liberale prozedurale Regularien verabschieden muss. Federführend ist hier zurzeit die FDP-Bundestagsabgeordnete Katrin Helling-Plahr. Durch sie, von Haus aus Medizinrechtlerin, war es wieder als Partei einzig die FDP, welche Spahn vor einer Rolle rückwärts bei der Sterbehilfe gewarnt hat.

Aus der Grauzone heraus – aber schwierig wie eh und je

Mit Dr. Wohlfart konnten und können damals wie heute seine Patient_innen über Hilfe zum Sterben beziehungsweise zur Selbsttötung offen sprechen. Dann wäge er „nach bestem Wissen und Gewissen ab, ob das für den- oder diejenige ein guter Weg sein kann und ob er dabei helfen möchte“, sagt Wohlfart. Das habe er bislang im rechtlichen Graubereich durch das Beschaffen von Medikamenten oder durch die Assistenz beim Sterbefasten auch schon insgesamt acht Mal gemacht. Dass das Verbot wiederholter Suizidhilfe im Februar 2020 als verfassungswidrig verworfen wurde, bedeute für ihn Rechtssicherheit. Doch sei man lange noch nicht am Ziel. So würde die Substanz Natrium-Pentobarbital, die in der Schweiz für den assistierten Suizid eingesetzt wird, in Deutschland nicht freigegeben.

Da sich nun Menschen an einen Arzt wenden können, „ohne dass für den eine Strafe im Raum steht”, sei zwar für alle eine Erleichterung – doch eher theoretisch. Denn in der Praxis bliebe eine bereitwillige Hilfe zum Suizid trotz Straffreiheit die seltene Ausnahme wie eh und je und würde nach Jahrzehnten der Tabuisierung auch weiterhin von Haus- oder Palliativärzt_innen gemieden.

Dies entspricht keinesfalls der von Gian D. Borasio, Palliativprofessor in Lausanne, vertretenen Auffassung, die er im Gespräch mit dem Spiegel geäußert hat. Er verteidigt darin einen von ihm, seinem Kollegen Prof. Ralf Jox und den Professoren Jochen Taupitz (Jurist) und Urban Wiesing (Medizinethiker) gemeinsam verfassten neuen § 217 StGB. In diesem soll Suizidhilfe allgemein wieder verboten werden, aber – sofern sie einen Katalog strengster Sorgfaltspflichten befolgen – Ärzt_innen von Strafe ausgenommen sein. Diese stünden, meint Borasio zu wissen, auch hierzulande doch in hinreichender Zahl für ihre Patient_innen in verzweifelter Lage zur Verfügung: In Deutschland hätten, so Borasio, in Umfragen aus dem Jahr 2010 „37 Prozent der Ärzte bejaht, dass sie Suizidhilfe durchführen würden, wenn sie klar geregelt wäre. … Es gibt mehr als 400.0000 Ärzte in Deutschland, die pensionierten nicht mitgezählt. Da kommen wir auf mindestens 150.000 Ärzte, die bereit wären, das zu tun.“

Gesetzentwurf der Hochschulprofessoren kritisch bewertet

Prof. Borasio und seine drei Mitautoren gehen in ihrem Gesetzentwurf nicht von der empirisch in Deutschland von Suizidwilligen erlebten Praxis aus, sondern von Ärzt_innen- Befragungen nach deren Einstellungen und von entsprechend hochgerechneten Zahlen. Sie kommen zu dem Fehlschluss, dass für eine Suizidhilfe in streng geprüften Einzelfällen hinreichend kompetente Kolleg_innen vorhanden sind. Der Vereins Sterbehilfe kontert angesichts der offensichtlich hilf- und kenntnislosen Mediziner_innen „…im Gegenteil – unsere Ärztinnen und Ärzte verlassen sich gerne auf unser Fachwissen und Erfahrung“. Dr. Wohlfart bestätigt dies: Die ärztlichen Kolleg_innen wüssten doch gar nichts – alternativ zu in Deutschland nicht zulässigem Natrium-Pentobarbital – über zu verwendende Medikamenten-Cocktails und Verfahren für eine ebenso sichere wie sanfte Selbsttötung.

In einer Studie von 2014, also vor dem gesetzlichen Suizidhilfeverbot, wurde von insgesamt 734 anonym befragten Ärzt_innen zu ihrer „Handlungspraxis am Lebensende“ nur in drei Fällen angedeutet, dass sie jemals tödlich wirkende Medikamente (für einen Suizid?) gezielt überlassen hätten. Aber Ärzt_innen könnten doch, betont Borasio im Interview, am besten einschätzen, ob hinter einem Suizidvorhaben wirklich ein „lange gereifter Entschluss“ stecke. Es bräuchte unbedingt jemanden, „der aktiv zuhört, kompetent Informationen gibt, Alternativen aufzeigt, wie Palliativmedizin, Schmerztherapie, bessere Pflege und so weiter“, und dazu seien ausschließlich Ärzt_innen in der Lage. Jede_r von ihnen hätte zudem „zumindest einen zweiten, unabhängigen Kollegen hinzuziehen“, darunter gegebenenfalls einen Psychiater.

Auf die Spiegel-Frage: „Wovor muss man Suizidwillige schützen?“ antwortet er: „Zum Beispiel davor, dass sie sich unter dem Einfluss einer behandelbaren psychischen Krankheit suizidieren. Oder vorschnell. Deshalb sehen wir eine Wartefrist von zehn Tagen vor.“ Warum aber sollten ausgerechnet zehn Tage eine sinnvolle Garantie sein? Unklar bleibt auch, warum in diesem neuen § 217 StGB die nicht-ärztliche Begleitung einer Selbsttötung ausgerechnet nur für Angehörige und Nahestehende straffrei bleiben soll. Sollten diese per se stets „uneigennütziger“ sein als die Vertreter_innen eines Sterbehilfevereins, den die vier Professoren als „überflüssig“ ausgeschlossen haben wollen?

Die beiden Gesetzentwürfe in öffentlicher Video-Debatte der FDP

Inzwischen sind immer mehr neue Regelungsvorschläge aufgetaucht, die den oben aufgeführten Punkten aus humanistisch-individualethischer Perspektive zuwiderlaufen. Die Debatte wird erst nach der parlamentarischen Sommerpause den Bundestag erreichen und ist – auch durch Corona bedingt – nur sehr langsam in Gang gekommen. Aber immerhin gibt es Bewegung durch Bundestagsabgeordnete mit liberaler Haltung.

Für potenzielle Mitstreiter_innen im Parlament, aber auch die interessierte Öffentlichkeit, bietet Helling-Plahr ein Video-Gespräch mit Vertreter_innen der beiden oben genannten Gesetzentwürfe an – dem des Humanistischen Verbandes Deutschlands und dem der Hochschulprofessoren Borasio u.a.. Daran kann jeder zunächst stummgeschaltet teilnehmen und am Schluss Fragen stellen. Unter dem Titel „Sterbehilfe in Deutschland – Wie geht es weiter?“ sind u.a. folgende Gespräche mit Katrin Helling-Plahr terminiert:

Dienstag, 4. August 2020

14:00 – 15:30 Uhr: Mit den Professoren G. D. Borasio, R. Jox, J. Taupitz und U. Wiesing (über ihren Gesetzentwurf s.o.)

Einwahldaten: https://global.gotomeeting.com/join/664381645

Donnerstag, 6. August 2020

15:00 – 16:30 Uhr: Mit der Beauftragten des Humanistischen Verbandes Deutschlands für Medizinethik und Patientenautonomie, Dipl.-Psych. Gita Neumann (über den HVD-Gesetzentwurf)

Einwahldaten : https://global.gotomeeting.com/join/663427933