Neue Kräfteverhältnisse und schlechte Verlierer
Die ZEIT Nr. 27 (25.06.) kommentiert die neuen Kräfteverhältnisse bei der Patientenselbstbestimmung und die Hintergründe für das parlamentarische Überraschungs-Ergebnis:
„Fünf Jahre sind eine kurze Zeitspanne, wenn es um die Veränderung von Denkweisen und Mentalitäten geht. Fünf Jahre lang hat der Bundestag um den gesetzlichen Umgang mit Patientenverfügungen gestritten, bis er am Donnerstag der vergangenen Woche mit großer Mehrheit die einfache und klare Regelung beschloss, für die das Lager der Liberalen seit jeher warb. Was ein Patient festlegt für den Fall, dass er sich in eigener Sache nicht mehr äußern kann, das muss sein Arzt beachten, Punktum. …
Das Ende aber war überraschend: Kein Kompromiss, sondern der konsequenteste Vorschlag eines der streitenden Lager setzte sich durch. Was hatte die Kräfteverhältnisse zuletzt so dramatisch geändert?
Im Rückblick auf diese Debatte fällt vor allem eines auf: Wie fremd Tonfall und Gedankengang älterer Beiträge schon heute wirken. Die Empörung über die »Selbsttötungs- und Selbstliquidierungs-Propaganda« aus dem Lager der Liberalen, … die Befürchtung, die alternde Gesellschaft werde ihre Kranken und Schwachen aus Kostengründen dazu drängen, sich in einen verfrühten Tod zu schicken – all diese Argumente spielten am Ende kaum noch eine Rolle. Weil sie widerlegt waren? Oder fanden sie einfach keinen Widerhall, waren sie zu weit entfernt von einer Wirklichkeit, in der viele überwiegend ältere Menschen weniger die Angst vor dem sozialen Druck plagt, aus dem Dasein scheiden zu sollen, als die Sorge, ihre wohlerwogenen und schriftlich niedergelegten Wünsche könnten am Ende missachtet werden?
… Von Anfang an hatte der Konflikt Züge eines Schattengefechts, weil ein wichtiger Akteur vorzugsweise indirekt in Erscheinung trat: die katholische Kirche. In seiner Enzyklika Evangelium vitae hatte Papst Johannes Paul II einen umfassenden Werteverfall beklagt, Folge einer »entarteten Vorstellung von Freiheit«, der sich in Verbrechen gegen das Leben ausdrückte, zu denen der Papst neben Mord, Völkermord, Abtreibung und Euthanasie eben auch den Vorsatz zählte, dass man ‘den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält’.
Man muss die Verbindung solcher Überlegungen mit dem Streit um Patientenverfügungen nicht zwingend finden. Die Kirche aber zog diesen Schluss – und erlitt eine verheerende Niederlage. Zu Beginn prägten Politiker wie die grüne Bundestagsabgeordnete Christa Nickels und die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner die Debatte, beide Mitglieder im Zentralkomitee der Katholiken. Mithilfe der Enquetekommission »Ethik und Recht der modernen Medizin« zogen sie zunächst sogar eine Mehrheit des Parlaments auf ihre Seite.
Es folgten die Sacharbeit in den Ausschüssen, die penible Untersuchung möglicher Fallkonstellationen … Da waren in Deutschland Strafverfahren gegen Mediziner und Anwälte, die unbestreitbar im Interesse ihrer Patienten gehandelt hatten – all das schwächte das Lager der Lebensschützer. … Am Ende hatte die katholische Kirche nur noch wenige Ansprechpartner im Bundestag … Und zwischen den beiden Kirchen waren die Patientenverfügungen zuletzt so heftig umstritten, dass sie eine gemeinsame Kapitulationserklärung unterzeichneten. Ein ‘in jeder Hinsicht überzeugender Regelungsvorschlag liegt bislang nicht vor’ – das war die Quintessenz der kirchlichen Versuche, auf die Gesetzgebung zur Patientenverfügung Einfluss zu nehmen. … " Quelle DIE ZEIT
Überprüfungsangebote zu bestehenden Patientenverfügungen
Dabei wird es jetzt in der praktischen Umsetzung darum gehen, die begründeten Einwände der Gegner des jetzt verabschiedeten Gesetzes (sehr) ernst zu nehmen und im Auge zu haben. Patientenverfügungs-Beratungstellen, sei es der Deutschen Hospizstiftung (DHS) oder des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) haben entsprechende Angebote aus der Schublade gezogen. Zum Beispiel wird von beiden Organisationen Hilfe bei der Überprüfung bestehender Patientenverfügung angeboten. Siehe www.patientenverfuegung.de/vorhandene-Patientenverfügung (HVD) und www.hospize.de/docs/Patientenverfuegung_12-Punkte_Check.pdf (DHS).
Die DHS hat darüber hinaus eine Schiedsstelle bei Konflikten zur Patientenverfügung angeboten.
Auch wenn es jetzt darum geht, die neuen Herausforderungen anzunehmen, auch diejenigen, deren Bedenken schwer wiegen, dabei „mitzunehmen" und nicht etwa „Siegerlaune" aufkommen zu lassen, wird ein abschließender Blick auf die schlechten Verlierer erlaubt sein.
Schlechte Verliierer
Denn die Gegner des beschlossenen Patientenverfügungsgesetzes „schießen weiter aus allen Rohren", mit höchst fragwürdigen Mitteln. Dies sind – neben Kirchen und CDU – in erster Linie die stark christlich geprägten Funktionäre der Bundesärztekammer Prof. Hoppe (Präsident) und Dr. Montgomery (Vizepräsident).
Eine Auswahl:
Als besonders „schlechter Verlierer" erweist sich der Präsident der Bundesärztekammer Prof. Hoppe (oder zeigt er nun seine wahre Meinung zur Patientenverfügung, die doch laut BÄK immer schon verbindlich sein sollte?). Der Köllner Rundschau gegenüber droht Hoppe:
„Die Ärzte werden sich sehr genau überlegen müssen, ob sie überhaupt einen Behandlungsvertrag eingehen, wenn eine Patientenverfügung vorliegt. Der Gesetzgeber hat ja überhaupt nicht bedacht, dass ein Behandlungsvertrag eine beiderseitige Angelegenheit ist."
Und in der WELT war zu lesen:
„Ärztekammer-Vizepräsident Frank Ulrich Montgomery erklärte am Freitag, nun hätten viele Menschen Angst, eine Verfügung zu verfassen. Denn es gebe laut dem neuen Gesetz keine Möglichkeit, eine Verfügung zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zu widerrufen. Dabei steht in dem beschlossenen Gesetz: ‘Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.’ …"
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach zeigt sich von seinen eigenen Reihen enttäuscht: "Wenn sich meine eigene Fraktion bei dieser wichtigen Frage in drei Fraktionen spaltet, darf man sich über dieses Ergebnis nicht wundern". Der Bundestagsabgeordnete Gerald Weiß (CDU) hat unterdessen davon abgeraten, eine Patientenverfügung zu verfassen. Auch die Vertreter der Kirchen kritisieren die jetzt entstandene Rechtslage. "Die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge stimmt nicht", sagte Bischof Wolfgang Huber, der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche.
Quellen:
aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/
krankenkassenratgeber.de/news/arzt-patient/gesetz-zu-patientenverfuegungen-kritik-haelt-an