Spahn verweigert Suizidwilligen letzte Chance – Rechtsbruch mit falscher Darstellung
Laut Medienberichten verstößt Minister Jens Spahn gegen ein Urteil, indem er mit Schreiben vom 29. Juni einer Bundesbehörde staatliche Sterbehilfe verbietet, welche das Bundesverwaltungsgericht angeblich angeordnet hätte. Letzteres ist falsch.
Im März 2017 hatte das Leipziger Bundesverwaltungsgericht ein aufsehenerregendes Urteil gefällt – gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), welches dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) nachgeordnet ist. Dort arbeiten rund 1.100 Mitarbeiter_innen, darunter Ärzt_innen, Apotheker_innen, Chemiker_innen und Biolog_innen. Wie konnte es dazu kommen? Anlass für die Klage gegen diese staatliche Behörde war der Fall einer Frau, die – seit einem Unfall fast komplett querschnittsgelähmt – aus dem Leben scheiden wollte. Sie musste künstlich beatmet werden, litt an Krampfanfällen mit großen Schmerzen, die kein Fall für palliativmedizinische Versorgung am Lebensende waren. Sie empfand ihre Situation zunehmend als unerträglich und entwürdigend. 2004 beantragte sie bei dem für Bewilligungen zuständigen BfArM die Erlaubnis zum Erwerb des Mittels Natrium-Pentobarbital, welches in der Schweiz für einen humanen Suizid verordnet und verwendet wird.
Urteil zu Verwaltungsakt, nicht zu staatlicher Unterstützung von Suizidhilfe
Von Anfang an ging es nicht um eine Selbsttötungshilfe, deren Erlaubnis oder gar aktive Unterstützung. Es ging einzig um den Verwaltungsakt (deshalb auch die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit), das in Deutschland verbotene Natrium-Pentobarbital verwenden zu dürfen und nicht illegal einführen zu müssen. Darüber kam es zu einem zwölfjährigen Rechtsstreit, der nach dem zwischenzeitlichen Tod der Klägerin von ihrem dazu bevollmächtigten Ehemann weitergeführt wurde. Zahlreiche Prozesse bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gingen dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig voraus. Dieses entschied 2017 in letzter Instanz und damit rechtsgültig zugunsten der Klägerin. Sie selbst konnte davon zwar nicht mehr profitieren. Aber etliche andere leidende, unheilbar Schwerstkranke durften nun hoffen, dass eine beantragte Genehmigung zur Beschaffung von Natrium-Pentobarbital auch in ihrem Fall nicht versagt bleiben würde. Dass ebendiese Möglichkeit nicht pauschal (!) verweigert werden darf, hatte nämlich das oberste deutsche Verwaltungsgericht im Einklang mit Europarecht somit auch für andere Fälle nicht linderbaren schwersten Leidens bestimmt.
Im Humanistischen Pressedienst heißt es hierzu korrekt mit einem Zitat von Prof. Robert Rossbruch: „Die immer wieder vom BMG und konservativen Bundestagsabgeordneten kolportierte Argumentation, der Staat dürfe sich nicht zum Helfershelfer eines Suizid machen …, ist nicht nur polemisch, sondern schlichtweg falsch. Denn es geht bei der hier in Rede stehenden Problematik nicht um die Unterstützung eines Suizidwilligen durch den Staat, sondern darum, dass der Staat nicht verhindern darf, dass in extremen Ausnahmefällen, also bei einer schweren und unheilbaren Krankheit ein zum Freitod bereiter Mensch ganz legal ein letal wirkendes Mittel erwerben können soll, um einen humanen Suizid begehen zu können.“
Schwerstkranken wird letzte Chance auf humanes Suizidmittel verwehrt
Michael Brandt (CDU), Hauptinitiator des Strafrechtsparagraphen 217 zum Suizidhilfeverbot von 2015, hatte hingegen vor einem Jahr anlässlich der Urteilsverkündung erklärt: „Der Staat kann nicht verpflichtet werden, sich an der Durchführung eines Suizids zu beteiligen. Das wäre ein Bruch mit unserer Werteordnung und widerspräche allen Anstrengungen zum Lebensschutz …“
Diesen ideologischen Sprachgebrauch hatte der Rechtsphilosoph Prof. Reinhard Merkel zurückgewiesen und das Leipziger Urteil als sehr vernünftig und ausgewogen bezeichnet: Das Bundesverwaltungsgericht habe Merkel zufolge nämlich nicht gesagt, “der Staat müsse sich in irgendeinem Sinne an der Hilfe zum Suizid aktiv beteiligen. Es hat nur gesagt: … Der Staat darf den Arzt nicht mehr zwangsrechtlich blockieren. Die Entscheidung ist eine des Patienten. Und die Entscheidung zur Hilfe ist die Entscheidung eines Arztes oder einer dritten Person, die dem Patienten hilft. Da ist nichts vom Verwaltungsakt im Spiel. Lediglich entschieden wurde, dass der Staat das nicht mehr mit Zwangsmitteln blockieren darf.”
Die inzwischen über einhundert Antragsteller_innen wurden bisher mit einer Verweigerungsstrategie des BfArM auf Anweisung aus dem Bundesgesundheitsministerium hingehalten (wir berichteten darüber im Beitrag Vom Ende der Geduld). Nun besteht mit einem Schreiben vom 29. Juni Klarheit: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat das ihm unterstellte Bundesinstitut darin anweisen lassen, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2017 in keinem einzigen Fall umzusetzen und pauschal alle Anträge abzuweisen. Der Humanistische Verband kommentiert diesen Vorgang Suizidwilligen eine letzte Chance zu verweigern: „Für die skandalöse Missachtung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts gibt es keine weltanschaulich neutralen Gründe. Schon der Förderung der Suizidhilfe laut § 217 Strafgesetzbuch liegt die rigorose Tendenz zugrunde, keinerlei Ausnahmen etwa für Ärzte vorzusehen, die ihren aussichtslos erkrankten Patienten auch nur Unterstützung bei der Selbsttötung gewähren.”
Die ganze Abwehrgeschichte des Staates von 2015 bis heute
Das Gesundheitsministerium begründet den Rechtsbruch damit, es könne nicht Aufgabe des Staates sein, die Absicht zu Selbsttötung aktiv zu unterstützen. Die ganze Geschichte der staatlichen Verweigerung hat der Deutschlandfunkkultur zusammengefasst im Podcast mit Originalstimmen-Aufzeichnungen seit 2015 bis heute.
Allerdings ist dabei auf einen Wehrmutstropfen bei der medialen Übernahme des ideologisch vorgeprägten Sprachgebrauchs hinzuweisen – was heutzutage auch im Deutschlandfunk gang und gäbe ist. Dort wird nämlich in Überschrift und Einführungstext zum hörenswerten Podcast ebenfalls fälschlicherweise davon gesprochen, dass der Staat „beim Sterben helfen“ müsse, habe „das Bundesverwaltungsgericht entschieden“.