Statement aus humanistischer Sicht bei der GRÜNEN-Fraktion am 1. 7.
Dipl. Psych. Gita Neumann
E-Mail g.neumann@hvd-bb.de, Tel. 030 613904-19 oder -11
Statement für den fraktionsoffenen Abend der GRÜNEN am 1. Juli 2014
Für eine Beibehaltung der bestehenden Nicht-Strafbarkeit von Suizidhilfe
Die öffentliche, fachliche wie private Diskussion über Suizidbeihilfe ist geprägt von Unsicherheiten, Wissensdefiziten und Abwehrhaltungen. Teils besteht eine weltanschaulich-ideologische Instrumentalisierung.
So verabsolutiert die eine Extremposition das Ideal der Autonomie in Form der Verfügungsgewalt auch über das eigene Sterben. Daraus soll sich gar ein Rechtsanspruch auf Angebote auch der Suizidhilfe ableiten lassen. Die Gegenposition verabsolutiert die Notwendigkeit des Lebensschutzes. Sie fordert ein restriktives Verbot der Suizidhilfe, da diese den Idealen der Hospizbewegung zuwiderlaufe und Druck auf vulnerables Leben ausübe.
Ich plädiere demgegenüber für einen differenzierten dritten Weg den einer realitätsbezogenen Ethik der Verantwortung, Selbstbestimmung und Fürsorge. Diese stellt Suizidprophylaxe und die Stärkung von Lebensqualität in den Vordergrund, v. a. das Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht auf Pflege-, Behandlungs-, Wohnungs-, Hospiz-, Betreuungs- oder Assistenzangebote. Dies ist im Gesundheits- und Sozialbereich gemeinnütziger Organisationen wie dem des Humanistischen Verbandes Deutschlands (kurz: HVD) der Fall. Dort bin ich als Referentin für Lebenshilfe und Patientenverfügungen zuständig.
Dass jedes Leben Würde besitzt, selbstverständlich auch ein nicht (mehr) selbstbestimmungs- und entwicklungsfähiges, muss als ethische Grundhaltung immer wieder eingefordert werden. Dies kann m. E. nicht von einer Organisation erwartet werden, die nur auf das einzige Dienstleistungsangebot einer Suizidhilfe spezialisiert ist. Allerdings wäre deren strafrechtliches Verbot weder wünschenswert noch verfassungskonform. Denn selbstverständlich erlauben staatliche Neutralität und gesellschaftliche Pluralität höchst unterschiedliche Einstellungen von Bürgerinnen und Bürger, wie schnell und mit wessen Begleitung sie wohlüberlegt sterben wollen. Schon heute trifft der Straftatbestand einer mittelbaren Tötungshandlung auf den Suizidhelfer zu, wenn die Gefahr einer verzweifelten Kurzschlusshandlung bzw. Nicht-Freiwillensfähigkeit des Suizidenten oder gar seiner Bedrängnis gegeben wäre.
Wir haben im HVD Berlin über 1.000 ehrenamtliche Helfer/innen im Einsatz, z. B. für alte und einsame Menschen, sind Träger von Hospizarbeit und über den Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vertreten im Bündnis für gute Pflege. Möglichst in einem solchen Rahmen sollten hilfe- und ratsuchende Menschen auch kompetente und verständnisvolle Ansprechpartner/innen finden, die sie bei Suizidgefährdung ins Vertrauen ziehen zu können. Dabei ist insbesondere der Alterssuizid ein Thema – das ambivalente oder auch dringende Bedürfnis, das eigene Ende zumindest der Möglichkeit nach selbst in der Hand zu haben.
Hintergründe sind vielfältige Ängste und meist gehäuft auftretende chronische Krankheitsbeschwerden (Rheuma- oder Knochenschmerzen, depressive Verstimmung, Atemnot, Organerkrankungen, seelische Belastung, Lähmungen, Inkontinenz, Minderung oder Verlust von Geh-, Seh- oder Hörfähigkeit) i.d.R. also Leidenssymptome, die palliativmedizinisch kaum oder gar nicht zugänglich sind.
Das Maß der Verzweiflung muss als enorm angesehen werden. Der Rechtsmediziner Dr. Peter Klostermann sichtete in einer Studie zum Altersuizid (bereits 2004) an der Berliner Charité Obduktions- und Polizeiprotokolle, las erschütternde Abschiedsbriefe. Da heißt es etwa bei einem Erhängten: “sehe ich diese Lösung zwar als äußerst schockierend an … jedoch insofern als die angepasst humanste, als sie mir weitere qualvolle Jahre (mit Parkinson) erspart. Eine Frau, die sich mit ihrem Rollstuhl die Treppe hinunter in den Tod gestürzt hatte, hinterließ in einem Brief, sie könne einfach nicht noch einmal so einen Sommer durchstehen.
Es zeigte sich Klostermann: Diese Selbsttötungen waren keine affektive Kurzschlussreaktionen, vielmehr lange geplant. Dennoch und umso erschreckender: Das Umfeld hatte bis auf seltene Ausnahmen hiervon nicht die geringste Ahnung. Diese speziellen Suizidgefährdeten wenden sich natürlich nicht vorher an Menschen oder Organisationen, von denen sie Widerstand oder gar eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie zu erwarten haben. Sie möchten auch niemandem zumuten, sich strafbar zu machen. Insofern ist festzuhalten: Die bestehende Nicht-Kriminalisierung sowie eine zunehmende Enttabuisierung des Suizids ist unverzichtbare Voraussetzung für eine wirksame Prävention und Krisenhilfe.
Zwischen der Suizidverhütung, – prophylaxe, – konfliktberatung bis hin zur möglichen Begleitung eines freigewählten Todes bestehen überwiegend Gemeinsamkeiten:
- Nicht wertendes Gesprächsverhalten, Offenheit und Vertrauen
- den suizidalen Mensch in seiner Not annehmen und Akzeptanz signalisieren
- Gründe und akute Auslöser weder verharmlosen noch dramatisieren
- Fortsetzung des Kontaktes anbieten, nie falsche Versprechungen machen
- Realistische Möglichkeiten der Unterstützung und Alternativen erkunden (z. B. Bezugspersonen, soziale Dienste, medizinische Hilfe, verbindliche Patientenverfügung)
In Deutschland sind grob geschätzt etwa bis zu 50 % der jährlich rund 10.000 offiziellen Suizid-Toten im Rentenalter. Experten schätzen die versuchten Selbsttötungen mindestens zehnmal manche meinen sogar: fünfzigmal höher ein. Hinzu kommen die unzähligen verkappten, indirekten Fälle: Alte Menschen hören bewusst auf, ihr Tabletten einzunehmen oder zu essen. Aber sehr häufig werden wie ich selbst mehrfach erlebt habe – auch die richtigen, direkten Suizide durch Medikamentencocktails gar nicht als solche festgestellt. Verlässlich statisch erfasst werden natürlich die brachialen Selbsttötungen. Dazu gehören auch Mittel wie Scheren, Küchenmesser oder Haushaltschemikalien.
Menschen, die einen Alterssuizid ins Auge fassen, weil sie nicht mehr können und wollen, wenden sich natürlich wenn überhaupt nur an eine Lebensberaterin, Pflegeperson, einen Seelsorger oder Arzt, bei denen Akzeptanz zu erwarten und im Einzelfall eine Unterstützung ihres Anliegens nicht ausgeschlossen erscheint. Eine Gratwanderung, die auf Beziehung beruht – das ist das Modell einer Suizidkonfliktberatung. Allein die erfahrene Entlastung führt in fast allen Fällen dazu, dass das Suizidbegehren zumindest abgeschwächt, hinausgezögert oder auch zum Verschwinden gebracht werden kann.
Ich trete seit über 20 Jahren in meiner beruflichen Praxis und auch mit Publikationen für eine ergebnisoffene Suizidkonfliktberatung ein. Kürzlich wurde ich als Referentin zum Thema Neues Suizidhilfe-Gesetz? zu einer Diskussion mit Seniorenvertreter/innen der Berliner Bezirke eingeladen. Bei den etwa 25 Anwesenden eines demokratisch legitimierten und insofern repräsentativen Gremiums – gewann ich den Eindruck, dass der von mir vorgestellte dritte Weg im sehr breiten Konsens mitgetragen wird.
In ihrer Broschüre von Anfang 2014 mit dem Titel Ärztlich assistierter Suizid kommt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (kurz: DGP) zu ähnlichen Einschätzungen. Ich zitiere daraus:
Der Wunsch zu sterben kann das aktuell wichtigste Thema für den Patienten darstellen und sollte nicht tabuisiert werden, sofern ein Patient entsprechende Äußerungen oder Andeutungen macht. Die Äußerung von Sterbewünschen kann als ein Zeichen des Vertrauens gewertet werden.
Die DGP-Broschüre weist auf das grundlegende Dilemma hin, in dem sich Ärzte sowie die behandelnden Teams befinden die einen Patienten auch dann nicht alleinlassen möchten, wenn sein Wunsch nach ärztlich assistiertem Suizid sämtliche auch palliativmedizinischen Behandlungsangebote überlagert. Jenseits des Erfordernisses, eine berufsrechtliche Klärung herbeizuführen, wird derzeit kein Neurege-lungsbedarf gesehen, insbesondere nicht im Strafrecht. (Hervorh. G. N.)
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin weist also aktuelle politische Kriminalisierungsversuche zurück. Darin besteht völlige Übereinstimmung zwischen ihr und einem humanistischen Bündnisses, zu dem sich neben dem HVD sechs weiteren Verbände zusammengeschlossen haben. Das Bündnis präsentiert sich im Internet unter www.mein-ende-gehoert-mir.de.
Ebenfalls gegen einen neuen Straftatbestand wendet sich der renommierte Medizinethiker und Arzt Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing von der Universität Tübingen, Mitglied des Medical Ethics Committee des Weltärztebundes und bis 2013 Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission der deutschen Bundesärztekammer. Er plädiert für die Anerkennung der Sterbe- und Suizidhilfe-Realität und so etwa in der ZEIT vom 23.4. 2014 – ausdrücklich für organisierte Suizidhilfe. Die Pointe: Dafür sieht er vorrangig Ärztekammern oder sonstige ärztliche Vereinigungen als ethisch und fachlich prädestiniert an.
Suizidhilfe oder -begleitung kann sehr unterschiedliche Gesichter haben und reicht vom Mittragen des Vorhabens im Geiste über sachgerechte Informationen, Verschreiben tauglicher Mittel bis hin zum Dabeisein oder verabredeten
Auffinden des durch Suizid Verstorbenen und zur Unterstützung der Angehörigen. Dabei wird kein Lebensschutzgebot verletzt, wenn solche Hilfen erbeten und auch geleistet werden – ob von einem Einzelnen oder wie meist in der Praxis – verteilt auf mehrere Schultern und Rollen, ob nur von einem Arzt oder zusammen mit Angehörigen, der Mitarbeiterin einer Einrichtung oder dem Ehrenamtlichen eines Vereins, ob einmalig, auch mehrfach oder wie organisiert dabei auch immer.
Eine Unterscheidung zwischen “geschäftsmäßig” und “mehrfach betrieben gibt es nicht. Dabei spielt eine größere Geldsumme, bloße Kostenerstattung oder völlige Unentgeltlichkeit gar keine Rolle, geschäftsmäßig wäre auch eine kostenfreie Begleitung aus Gewissensgründen und Altruismus, wenn sie nicht nur in einem Einzelfall betrieben wird. Das könnte also einen Arzt oder eine Verbandsmitarbeiterin im Laufe von jahrzehntelanger Berufstätigkeit durchaus treffen. Eine gewerbsmäßige, d.h. kommerzielle Suizidhilfe wohlmöglich mit aggressiver Werbung wiederum hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun, ist eine spekulative Zukunftsvision bzw. irreale Zustandsbeschreibung.
Das Argument eines mit Schreckensbildern untermalten vermeintlichen Dammbruchs wird vom Münchner Medizinethiker und Arzt PD Dr. med. Dr. phil. Ralf J. Jox als unfair zurückgewiesen, da es ausschließlich an diffuse Ängste appelliert (16.4. 2014 im Deutschlandfunk). Seine Kolleg(inn)en in den Kliniken und Praxen wären zutiefst unsicher und eingeschüchtert, was denn nun im facettenreichen Bereich von Sterbe- und Suizidhilfe überhaupt juristisch erlaubt oder verboten wäre. Jox schlägt vor, die gegenwärtige Rechtslage schwarz auf weiß gesetzlich zu normieren, damit Ärztinnen und Ärzte in diesem Rahmen ausschließlich medizinethischen Geboten folgen können.
Dem Vorschlag von Jox zur Klarstellung der Rechtslage könnte man sich anschließen, wäre er nicht gegenwärtig utopisch. Denn es herrscht vor allem seitens der Unionsfraktion eine Stimmung, unbedingt den vermeintlichen Tod als Geschäft, die Ware Suizidhilfe gegen Geld im Keime zu ersticken – mit vorsorglicher Schaffung einer rein moralischen Strafnorm. Deren Wirkung bliebe symbolisch. Kollateralschäden etwa für eine gemeinnützige Krisenhilfe, eine vertrauensvolle Arzt-Patientenbeziehung oder das verfassungsmäßig verbürgte Würdeverständnis vieler Bürger/innen blieben unberücksichtigt.
Mittels des Strafrechts soll vor allem für Einschüchterung und ein Damoklesschwert gesorgt werden. Denn der Personenkreis oder die konkreten Handlungen, die nun zu bestrafen sein sollen, müssen zwangsläufig vage und unbestimmt bleiben. Dass Sie sich stattdessen für eine Nicht-Strafbarkeit, d. h. für die Beibehaltung der liberalen deutschen Regelung einsetzen, das erbitten und das erwarten wir von den Abgeordneten der Grünen.
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Literatur:
Suizidhilfe als Herausforderung Arztethos und Strafbarkeitsmythos
hrsg. von Gita Neumann, Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin
Band 5, 243 Seiten, erschienen 2012