Sterbehilfe regt in den Niederlanden niemanden mehr auf
Quelle: Die Welt vom 18.06.2004 (Autor: Ad Vaessen)
“Die Sterbehilfe regt in den Niederlanden kaum noch jemanden auf. Seit das “Gesetz zur Euthanasie” in Kraft ist, sinkt die Zahl der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen Die Dunkelziffer soll allerdings höher liegen.
Rotterdam “War es Euthanasie?” Diese Frage stellten sich viele Holländer, als sie vom Ableben des niederländischen Sozialdemokraten Johan Stekelenburg erfuhren, der schwer vom Krebs gezeichnet war. Niemand nahm Anstoß daran, dass der Spitzenpolitiker, der zuvor noch als Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gehandelt worden war, so aus dem Leben schied.
Seit etwas mehr als zwei Jahren ist in den Niederlanden ein Gesetz in Kraft, das Sterbehilfe, also Euthanasie, zulässt. Anders als die Deutschen, gehen die Holländer weitgehend unbefangen mit diesem Wort um. Für sie hat es nichts Belastendes. Kommende Woche wird sich eine Bundestagsdelegation von den Abgeordneten der niederländischen “Tweede Kamer” in Den Haag detailliert über die holländische Sterbehilfe informieren lassen. Dann werden sie oft den Begriff “Euthanasie” hören.
Vielleicht fahren sie am Ende beruhigt nach Hause. Denn in der holländischen Sterbehilfe ist das Horrorszenario ausgeblieben, das viele Kritiker an die Wand malten. Das Euthanasie-Gesetz hat nicht zum befürchteten Sterbetourismus geführt, weil es Sterbehilfe bei Patienten aus dem Ausland verbietet. Auch weiß kaum ein Beobachter aus den Nachbarländern, dass die Fälle der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden zurückgehen.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums nahmen im letzten Jahr 1.815 Menschen die Sterbehilfe in Anspruch (darunter waren 1.626 Euthanasie-Fälle, 148 Menschen, denen beim Suizid geholfen wurde, und 41 Personen, die durch eine Kombination aus Euthanasie und Suizid ihr Leben verloren). 2002 lag die Gesamtzahl noch bei 1.882 Fällen. Ein Jahr früher, also vor der Einführung des Gesetzes, betrug diese Zahl 2.054 und im Jahr 2000 sogar 2.123.
Keiner kann sich genau erklären, warum die Zahlen zurückgehen. Zwar gaben sie Anlass zu Spekulationen, eine erregte Debatte aber entflammte nicht. Selbst die Partei des Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende, die Schwesterpartei der CDU, stellt das Gesetz nicht mehr infrage. “Wir haben dagegen gestimmt, aber jetzt, da es ein Gesetz gibt, kann man es nicht wieder abschaffen. Wir spielen hier kein Jo-Jo”, stellt der Abgeordnete Henk Jan Ormel (CDA) fest.
Ormel fordert allerdings, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Der Parlamentarier fürchtet, dass die Dunkelziffer erheblich höher liegt. Aus Daten des Ärztebundes gehe hervor, dass die Anzahl der Euthanasiefälle sogar fast doppelt so hoch sei wie angegeben. “Wir sind besorgt”, so Ormel. “Was steckt hinter der Abnahme der Zahl der Euthanasiefälle. Wurde weniger Sterbehilfe beantragt? Oder wird Euthanasie betrieben, ohne dass eine Meldung erstattet wird, wie gesetzlich vorgesehen?” Inzwischen hat das niederländische Gesundheitsministerium eine Untersuchung angekündigt.
Geht alles seinen legalen Gang, ist es in den Niederlanden nicht so einfach, Sterbehilfe zu leisten. Niemand hat ein Recht auf Euthanasie. Auch ist der Arzt nicht verpflichtet, dem Kranken sein Ende durch den Tod zu erleichtern. Nach wie vor sieht das Gesetz die Strafbarkeit bei aktiver Sterbehilfe vor. In diesem Sinne unterscheidet sich die holländische Rechtslage nicht von der deutschen. Die Höchststrafe bei Missbrauch liegt in den Niederlanden sogar höher als in Deutschland.
Quelle: (APA, kps) DER STANDARD Printausgabe 18/19.12.2004)19.12.2004:
Sterbehilfe für Lebensmüde empfohlen
Expertenteam empfiehlt die in den Niederlanden erlaubte aktive Sterbehilfe auszuweiten mit Kommentar
Amsterdam In Ausnahmefällen sollte in den Niederlanden auch Lebensmüdigkeit als Grund für Sterbehilfe akzeptiert werden können. Das empfiehlt laut niederländischen Presseberichten eine Regierungskommission in einer Studie zum Euthanasiegesetz. Dieses Gesetz müsse dafür nicht geändert werden. Die darin enthaltene Voraussetzung, dass Patienten nur im Fall “unerträglichen Leidens” um Sterbehilfe ersuchen könnten, treffe auch auf Lebensmüdigkeit zu, meinen die Experten.
“Aussichtslos krank”
Die Justiz der Niederlande legt derzeit fest, dass Lebensmüdigkeit kein Grund für aktive Sterbehilfe sein könne. Infrage kämen nur medizinisch nachweisbare körperliche oder geistige Leiden.
Sterbehilfe ist in den Niederlanden seit April 2002 unter Auflagen erlaubt: wenn ein Patient unerträglich leidet, aussichtslos krank ist und mehrfach ausdrücklich darum gebeten hat. Von einem zweiten Arzt muss eine übereinstimmende Entscheidung vorliegen. Die Staatsanwaltschaft wird nur bei Zweifeln an der ärztlichen Entscheidung angerufen. Sollte sich herausstellen, dass der Arzt gegen die Regeln verstoßen hat, drohen ihm bis zu zwölf Jahre Haft.
Zögerliche Justiz
Die Praxis verläuft aber anders: Der Spiegel zitierte im Juli in einer Reportage die Studie der niederländischen Regierung, der zufolge Ärzte Patienten in 38 Prozent der Euthanasiefälle auch deshalb töten, weil die Angehörigen die Belastungen durch den Kranken “nicht mehr ertragen können”.
Wie aus derselben Studie hervorgeht, wird auch strafrechtliche Verfolgung von Ärzten, die dem Sterbehilfegesetz zuwider gehandelt haben, kaum betrieben: Zwar kann es zur Anzeige kommen, aber die Justiz hat seit der Einführung des Gesetzes noch in keinem Fall Anklage erhoben. Euthanasiegegner wundert dies nicht: Das Hauptbeweismittel wäre ein gutachterlicher Bericht zur Sache, den der Beklagte selbst schreibt. Die Regierung will nun die Kontrolle und die Sanktionen verschärfen.”