Sterbehilfefall sorgt für Nachdenken bei französischem Justizminister
Abbruch der künstlichen Beatmung bei Sterbewilligem: Französischer Chefarzt muss mit Anklage wegen Tötung rechnen
Der Tod eines schwerstbehinderten jungen Franzosen durch aktive Sterbehilfe wird seit Dienstag von einer Ermittlungsrichterin aufgerollt. Marie Humbert, die Mutter des im September gestorbenen Vincent Humbert, traf im Gericht von Boulogne-sur-Mer ein, um die Verabreichung von Gift an ihren 22-jährigen Sohn zu rechtfertigen. Die 48-jährige Marie Humbert hatte ihrem Sohn trotz Strafandrohung beim Suizid helfen wollen. Sie hatte sich bereits im vornherein im Fernsehen zu der Mitwirkung an dem Tod bekannt, den der junge Mann ausdrücklich herbei gewünscht hatte.
Humbert, ein Feuerwehrmann, war bei einem Verkehrsunfall vor drei Jahren so schwer verletzt worden, dass er fortan weder Arme noch Beine bewegen konnte und zudem blind und taub war. Mehrfach versuchte er in der Folgezeit, sich das Leben zu nehmen, was jedoch aufgrund der Schwerstbehinderung nicht möglich war. Er appellierte sogar an Staatspräsident Jacques Chirac, möglichen Sterbehelfern Straffreiheit zuzusichern. Der 22-jährige schrieb zudem mit Hilfe eines Journalisten ein Buch (‘Ich bitte um das Recht zu sterben’), in dem er sein Leiden und seinen Todeswunsch schilderte. Es erschient einen Tag vor seinem Tod ist bereits ein Bestseller.
Nachdem Vincents Mutter ihm auf sein Verlangen hin Barbiturate gespritzt hatte, starb der junge Mann jedoch nicht, sondern fiel ins Koma. Der Tod traf schließlich ein, nachdem Dr. Frédéric Chaussoy, Leiter der Intensivabteilung im Krankenhaus Berck-sur-Mer, nach Rücksprache mit seinem Team die Beatmungsmaschine abgestellt hatte. Von einem anschließend notwendigen Reanimationsversuch wurde abgesehen. Nun soll auch Dr. Chaussoy aussagen, dem vorgeworfen wird, bei dem ihm bekannten Patienten die Sterbehilfe der Mutter durch Unterlassen ‘vollendet’ zu haben. Er muss mit einer Anklage wegen vorsätzlicher Tötung rechnen. Dabei hatte Dr. Chaussoy seine Entscheidung sofort nach dem Ereignis öffentlich gerechtfertigt. Er hätte auch Komplikationen vorschützen können, habe sich aber bewusst für die Wahrheit entschieden, betonte der Mediziner. Das British Medical Journal berichtete im Herbst 03 darüber (327, 2003, 1068). Die Mutter muss mit einer Anklage wegen vorsätzlicher Vergiftung rechnen.
Der Fall hat in Frankreich eine breite Debatte über die Sterbehilfe ausgelöst. Sterbehilfe für Schwerkranke dürfte in Frankreich mittelfristig gesetzlich geregelt werden. Der Pariser Justizminister Dominique Perben räumte ein, ein derartiges Gesetz sei »wahrscheinlich nicht« zu umgehen. Der Konservative betonte, mit der Frage müsse aber »sehr behutsam, sehr aufmerksam« umgegangen werden. Eine Regelung dürfe nicht aus der Emotion heraus kommen, sondern müsse das Ergebnis intensiven Nachdenkens sein (Quelle: Grenz-Echo vom 07.11.2003).
Auch in Deutschland bestünde durchaus Strafverfolgungsgefahr für einen Arzt, der bei einem eindeutig Sterbewilligen die Lebensrettung unterlässt bzw. abbricht. Eine eindeutige Regelung gibt es nicht, vergleichbare Fälle finden normalerweise in einer Dunkelzone statt und kommen gar nicht erst ans Tageslicht. Das dies so nicht in Ordnung sein kann, wird zunehmend auch von den Ärzten selbst problematisiert. Europaweit wird ein Regelungsbedarf angemahnt.
In Deutschland steht der Arzt zwischen zwei Stühlen: er kann sich bei einer aufgezwungenen Behandlung entgegen dem ausdrücklichen Patientenwillen der Körperverletzung schuldig machen. Er kann sich umgekehrt, wenn er den Patienten sterben lässt, jedoch aufgrund seiner Garantenpflicht auch der Tötung durch Unterlassen schuldig machen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reanimationsverbot vom Schwerkranken im Umfeld eines Suizides oder in quasi suizidaler Absicht ausgesprochen worden ist.
Zwar verliert eine einseitig auf Lebensschutz ausgerichtete Position zunehmend an Terrain. Doch die Rechtslage ist viel zu widersprüchlich, als dass von einem verlässlichen Selbstbestimmungsrecht auf humanes Sterben ausgegangen werden könnte. Dabei steht das Feindbild der ‘aktiven Sterbehilfe’, gegen die ein oftmals geradezu fanatischer Abgrenzungszwang zu bestehen scheint, paradoxerweise auch einer vernünftigen Regelung der ‘passiven Sterbehilfe’, d. h. dem Sterben-Lassen, im Wege.