Sterbehilfevereine auf dem Vormarsch – was sie bieten
Jeder Einzelne soll freiwillig aus dem Leben scheiden können und andere müssen ihm dabei helfen dürfen. Dass dies grundgesetzkonform ist, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Februar 2020 entschieden. Doch es gibt bis heute keinerlei ärztliche Struktur, wo sich Bürger_innen über Leistungen zur Suizidhilfe informieren oder diese gar in Anspruch nehmen können. Sterbehilfevereine verfügen über einen ihnen angeschlossenen Pool von bereitwilligen und kompetenten Ärzt_innen und füllen damit diese Lücke. Welche Leistungen sie zu welchen Konditionen und Gebühren anbieten, wird zunehmend transparent.
Der Berliner Hans-Joachim „Hanjo“ Lehmann (75), Schriftsteller, China-Kenner und studierter Mediziner, hat 2015 die „Arbeitsgemeinschaft ärztliche Sterbehilfe“ gegründet, aus Protest dagegen, dass „eine Mehrheit der Abgeordneten ihre eigene Ideologie über die Grundrechte aller Bürger gestellt“ hat. Aber auch nach dem Kippen des Suizidhilfeverbots im § 217 StGB sind sämtliche seiner Aktivierungsversuche gescheitert. Wenn es selbst in der Millionenmetropole für so eine Arbeitsgemeinschaft– wie Lehmann im taz-Interview https://taz.de/Suizid-Assistenz-in-Deutschland/!5815551/ berichtet – nahezu unmöglich ist, „einen ärztlichen Sterbebegleiter“ zu finden, wie sei es da wohl in anderen Städten und erst recht auf dem Land?
Tatsache ist, dass sich immer noch kaum jemand aus der Ärzt_innenschaft traut, sich – beruflich, privat oder gar öffentlich – als Freitodhelfer_in zu outen. Eine Ausnahme ist der Berliner Arzt Dr. Michael de Ridder. Er hat das Leiden von Menschen während seines langen Berufslebens in all seinen Facetten gesehen, auch die Verzweiflung über Einsamkeit im Alter, unwürdige Zustände in der Pflege, Scham über den Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper. De Ridder steht jedoch einer Suizidhilfe als Dienstleistung ablehnend gegenüber. Im Interview mit Heike Haarhoff vom 10. September 2021 (in background.tagesspiegel.de/gesundheit) erklärt er: „Ich kann und will nicht jeden Wunsch erfüllen“. Er ist vor allem durch seine zahlreichen Bücher (2010-21) bekannt und die Nachfrage sei groß. Aber nur wer schwer krank ist und sich ihm öffnet und dabei über eine lange Zeitspanne – Monate oder auch Jahre – einen kontinuierlich festen Willen offenbart, hätte eine Chance, seine Hilfe zum Suizid zu erfahren. Nicht, weil er paternalistisch wäre, sondern weil er es ja auch aushalten müsse – der oder die andere wäre schließlich tot.
Was die Suizidhilfeorganisationen zu welchen Preisen leisten
Zwar steht suizidwilligen Menschen laut BVerfG-Urteil das Recht zu, angebotene Hilfe in Anspruch zu nehmen, wozu wiederum kein Arzt und keine Ärztin verpflichtet werden kann. Zum Sterben in die Schweiz zu fahren, ist aber nicht länger erforderlich, Suizidhilfe ist hierzulande prinzipiell überall möglich.
In dieser Situation nahmen die beiden Organisationen, die bis 2015 Suizidhilfe angeboten hatten, im Frühjahr 2020 ihre Tätigkeit in Deutschland sofort wieder auf: Der Verein Sterbehilfe (mit Deutschlandbüro in Hamburg) und Dignitas Deutschland(in Hannover) – wozu sich nach dem BVerG-Urteil nunmehr noch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) gesellt hat. Alle folgenden Angaben sind ebenfalls der oben genannten Quelle in background.tagesspiegel.de/gesundheit vom 10. September entnommen.
Laut dem Vorsitzenden Roger Kusch hat der Verein Sterbehilfe alle relevanten Informationen akribisch und transparent im Internet aufgelistet: Vereinsstatuten, ethische Grundsätze, Regeln der psychiatrischen und juristischen Begutachtung, Mitgliedsbeiträge, Wartefristen und Kosten einer Suizidbegleitung. Seit Februar 2020, berichtet Kusch, habe sich die Mitgliederzahl auf mehr als 700 verdoppelt. Rund zwei Dutzend Mediziner_innen sowie zehn Sterbehelfer_innen arbeiteten mit dem Verein zusammen. Das Procedere sei klar geregelt: Vereinsmitglieder, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollten, müssten eine verbandseigene Patientenverfügung haben, einen Antrag stellen und sich einer Begutachtung unterziehen, die sicherstellt, dass ihre Entscheidung freiverantwortlich getroffen wurde. Mitunter vergingen Monate, manchmal Jahre, bevor der Verein, wie es im Jargon heißt, „grünes Licht“ gibt. Die begleiteten Suizide würden – zur Dokumentation der Tatherrschaft und somit auch zur rechtlichen Absicherung der Sterbehelfer_innen – „diskret“ auf Video aufgezeichnet und fänden daheim bei den Menschen statt. Je nach Länge und Art der Mitgliedschaft verlange Verein Sterbehilfe pro Suizidassistenz einen „Zusatzbeitrag“ in Höhe von 2.000 bis 7.000 Euro.
Bei Dignitas Deutschland, der vergleichbar vorgehenden Konkurrenz, muss nach Angaben ihres Justitiars Dieter Graefe „mit Gebühren zwischen 6.000 und 9.000 Euro“ gerechnet werden. Was „nach viel Geld klingen mag“, sagen sowohl Kusch als auch Graefe, decke tatsächlich die Kosten, die jeweils durch psychiatrische Gutachten, Rechtsberatung, Medikamente, Reise- und Honorarkosten sowie Verwaltungsaufwand entstünden. Wer sich das nicht leisten könne, für den werde ein Ausweg gefunden, etwa über Spenden. Für die DGHS berichtet ihr Präsident Robert Roßbruch: 4.000 Euro koste die Assistenz dort, und da sich die DGHS offiziell nicht als Sterbehilfeverein versteht, soll das Geld zunächst auf ein Notar-Anderkonto überwiesen werden, von dem aus es dann zu den Ärzt_innen und Jurist_innen gelangt. Es brauche viel Zeit, in der Regel Monate, um – nach einer Mitgliedschaft von mindestens einem halben Jahr, was jetzt wohl noch verlängert werden soll – Anträge auf Suizidhilfe mit gebotener Sorgfalt zu prüfen und dann eine Ärztin oder einen Arzt in räumlicher Nähe zu finden. Roßbruch räumt ein: „Zehn Prozent der suizidwilligen Menschen sind schon vorher von selbst verstorben“ – sie seien einfach zu spät bei der DGHS vorstellig geworden.
Die Vereine arbeiten in einem Freiraum, da eine gesetzliche Neuregelung erst in dieser Legislatur von der Ampelkoalition angestrebt wird. Sie wehren sich gegen verpflichtende, kostenfreie und ergebnisoffene Beratungsgespräche durch neu einzurichtende staatlich anerkannte Stellen, wie dies laut fraktionsübergreifenden Entwürfen vorgesehen ist. Befürchtet wird, dass solche „Zwangsberatungen“ zu einem Rechtfertigungsdruck und einer Entmündigung von Suizidwilligen führen und ihre verfassungsmäßigen Rechte dadurch wieder verwässert würden.
Freiraum mit Prüfungen und Reglementierungen
Es bedürfe keiner staatlichen Regulierung, denn man halte sich bei der Überprüfung des Todeswunsches ja „streng an die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Kriterien“, sagt die DGHS-Sprecherin Wega Wetzel im taz-Interview. Rund 120 Menschen wären durch Vermittlung der DGHS in diesem Jahr in den Freitod begleitet worden. Gut fünf Prozent davon seien Doppelbegleitungen gewesen – ältere Ehepaare, die den letzten Schritt gemeinsam vollzogen.
In allen anderen westlichen Ländern mit einer liberalen Regelung der Sterbe- und Suizidhilfe ist diese auf Menschen beschränkt, die an schwersten Erkrankungen leiden – nicht so in Deutschland. Die legale Hilfe zur Selbsttötung ist hierzulande völlig unabhängig vom Gesundheitszustand oder auch nur dem Motiv, wobei allerdings der Wille zu sterben „von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit“ getragen sein muss. Bei allen Antragsteller_innen, führt Wetzel weiter aus, stehe ein Arzt und ein Jurist zur Seite. Durch dieses Team würde vor jeder Suizidhilfe eine sorgfältige Prüfung vorgenommen mit persönlichen Erst- und Zweitgesprächen. Dabei ist die „Entscheidungsfähigkeit der Betreffenden auszuloten“ und „der Wunsch muss konstant sein“.
Dies seien jedoch ausdrücklich keine Beratungs-, sondern Aufklärungsgespräche. Die DGHS lehne eine verpflichtende Beratung „prinzipiell ab“, wie sie gesetzlich durch öffentlich finanzierte Stellen vorgesehen sind. Bei ihr hätten sich als Hauptgruppe mit ca. 40 Prozent Krebserkrankungen herauskristallisiert, dann neurologische Erkrankungen wie ALS, MS und schwere Leiden durch orthopädische Einschränkungen sowie schließlich Menschen mit jeweils mehreren Erkrankungen. Also doch ausschließlich Freitodwünsche aufgrund eines sehr schlechten Gesundheits- und unerträglichen Leidenszustandes? Nein, gibt Wetzel an: Für rund 20 Prozent der Freitodwilligen gelte als Motiv eine Lebenssattheit aufgrund von Hochbetagtheit. Das seien Menschen, die wüssten, „dass jetzt nur noch das Pflegeheim kommt und die das partout nicht wollen“ und die „ihr Leben gelebt haben.“ Allerdings blieb eine Gruppe außen vor: Suizidhilfewünsche von Menschen, „die aufgrund von beginnender Demenz oder einer psychischen Erkrankung aus dem Leben gehen wollen, erfüllen wir grundsätzlich nicht“, so Wetzel.