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Stimmen und Perspektiven zum „Natrium-Pentobarbital“-Urteil

15. Nov 2023

Könnte nicht nur die Abgabe von Natrium-Pentobarbital, sondern auch seine Aufbewahrung so gestaltet werden, dass Sicherheitsbedenken weitgehend auszuräumen wären? Alle bisherigen Urteilsbegründungen argumentieren stattdessen, dass nach dem spektakulären Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Februar 2020 doch für suizidwillige Menschen „die realistische Möglichkeit bestehe, die Hilfe eines suizidbegleitenden Arztes oder einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch nehmen zu können.“ Wir haben Stimmen zum aktuellen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gesammelt.

Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte im Dezember 2020, also zehn Monate nach seinem spektakulären Grundsatzurteil, relativ unbeachtet die entsprechende Klage zum Erhalt von Natrium-Pentobarbital eines Ehepaares zurückgewiesen. Im Sinne dieser Kontinuität verweigerte am 7. November 2023 in letzter zivilrechtlicher Instanz auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig den privaten Erwerb des tödlichen Barbiturats Natrium-Pentobarbital. Dies hat nun zahlreiche kontroverse Stellungnahmen und Stimmen aus sehr verschiedenen Perspektiven hervorgerufen. Hier sind die folgenden der Reihe nach aufgeführt: DGHS, Dignitas Deutschland, die beiden Kläger, Humanistischer Verband, Bundestagsabgeordnete, Legal Tribune, Palliativstiftung und Stiftung Patientenschutz.

Der Prozessbevollmächtige der Kläger (RA Robert Roßbruch von der DGHS):

Rechtsanwalt Roßbruch war Prozessbevollmächtigter der beiden schwerkranken Kläger. Er hatte versucht, die Richter*innen des Leipziger BVerwG von einer Abgabe von Natrium-Pentobarbital als „verfassungskonforme Auslegung“ des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zu überzeugen. Dieser Paragraf im BtMG (Betäubungsmittelgesetz) gibt vor, dass eine Erlaubnis zum Erwerb und Handel mit entsprechenden Medikamenten zu untersagen ist, wenn sie nicht dem Ziel einer gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung dienen. 

2017 hatte dasselbe Leipziger Gericht anscheinend anders geurteilt: Demnach sollte damals, d.h. unter den Bedingungen des Suizidhilfeverbots im § 217 StGB, eine Ausnahme bestehen, nämlich wenn sterbenskranke Suizidwillige sich nachweislich in einer extremen Notlage befänden. Darunter wurden insbesondere nicht ausreichend linderbare Schmerzen verstanden, wobei zu der Zeit (d.h. vor 2020) noch die ärztlich oder organisatorisch „geschäftsmäßig“ durchgeführte Hilfe zur Selbsttötung regulär unter Strafe stand. Es handelt sich beim jetzigen BVerwG-Urteil von 2023 um veränderte Rahmenbedingungen und nicht etwa um einen Sinneswandel der Richter*innen. Roßbruch, der gleichzeitig Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) ist, zeigte sich am Tag der Urteilsverkündung enttäuscht und kommentierte: „Es ist ein schwarzer Tag für die Betroffenen und viele weitere suizidwillige Menschen in Deutschland“. Roßbruch kündigte an, Verfassungsbeschwerde in Erwägung zu ziehen. 

Jedenfalls müssten dabei die von den Gerichten vorgebrachten Sicherheitsbedenken wohl mit überzeugenden Argumenten und nicht allzu komplizierten Vorschlägen ausgeräumt werden. 

Quellen: dghs.de/presse-erklaerungen/ein-schwarzer-tag-fuer-die-suizidwilligen-betroffenen.html

bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/12/rk20201210_1bvr183719.html

hpd.de/artikel/klage-abgewiesen-kein-natrium-pentobarbital-zur-lebensbeendigung

Die Vorsitzende von Dignitas Deutschland (Sandra Martino): 

Alle bisherigen Begründungen der einschlägigen Urteile gehen dahin, dass für suizidwillige Menschen nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 doch die realistische Möglichkeit zur Hilfe bei ihrer Selbsttötung bestünde. So weist auch das Leipziger BVerwG in seiner jüngsten Ablehnung der staatlichen Erlaubnis zum freien Verkauf von Natrium-Pentobarbital auf die Möglichkeit für die Kläger hin, doch „Hilfe eines suizidbegleitenden Arztes oder einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch nehmen zu können“. Sandra Martino, Vorsitzende des Sterbehilfevereins Dignitas Deutschland, bewertet die Entscheidung des Gerichtes wohl deshalb etwas anders als Robert Roßbruch von der DGHS.

“Das Ziel des Bundesverwaltungsgerichts, den Umgang mit Natrium-Pentobarbital zu schützen und somit Unfällen und Missbrauch vorzubeugen, ist zu begrüßen”, sagte Martino dem NDR. “Dass die Suizidhilfe-Organisationen als legitime Alternative zur Erwerbserlaubnis von Natrium-Pentobarbital gesehen werden, begrüßen wir selbstverständlich auch.” Sie mahnte aber an: “Es braucht dazu aber ausreichend Ärzte, die bereit sind, ihren Patienten Suizidhilfe zu leisten.” Für diese Ärzt*innen brauche es Rechtssicherheit.

Quelle: ndr.de/nachrichten/-Sterbehilfe-Mittel-darf-nicht-ausgegeben-werden,sterbehilfe440.html

Die beiden Kläger (Harald Mayer und Hans-Jürgen Brennecke):

Die beiden Kläger waren (damals noch zusammen mit anderen) bereits vor dem Verwaltungsgericht Köln (2020) und vor dem nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgericht (2022) gescheitert – ihre Revision wurde nun abgewiesen. 

Für Hans-Jürgen Brennecke ist diese Entscheidung “furchtbar enttäuschend und sehr ärgerlich”, wie er dem NDR nach der Bekanntgabe des Urteils sagte. “Wir werden wieder bevormundet. Das ist nicht nachvollziehbar.” Er leidet neben einer koronaren Herzkrankheit vor allem am Burkitt-Lymphom, einem besonders bösartigen und aggressiven Krebs. Dieser konnte zwar nach einer Chemotherapie vollständig zurückgedrängt werden. Falls er jedoch erneut auftritt, wolle er mit Natrium-Pentobarbital die Möglichkeit haben, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Harald Mayer leidet an einer schweren Form der Multiplen Sklerose, die schrittweise seine vollständige Lähmung vom Hals abwärts bewirkt hat, so dass er seinen Rollstuhl nur noch steuern kann, indem er einen Schalter mit dem Kinn bedient. Er führt seit sechs Jahren einen Kampf mit Gerichten, immer wurde ihm untersagt, Natrium-Pentobarbital (Na-P) zu kaufen – er würde es nicht sofort nehmen, aber sicherstellen wollen, sich in dem Moment zu töten zu können, wenn er es nicht mehr aushalte. Er wollte für sich eine Ausnahme im Betäubungsmittelgesetz zum Kauf von Natrium-Pentobarbital erwirken und drückt sein völliges Unverständnis für das ablehnende letztinstanzliche Urteil aus. „Ich bin geschockt, kann es noch gar nicht fassen. Es gibt Alternativen! Klar, ich könnte in einen See fahren. […] Ich finde das Urteil ignorant. Die sollten mal 24 Stunden festgebunden auf einem Stuhl sitzen, dann fühlen sie ein Prozent dessen, was ich dauerhaft erleiden muss.“

Dabei besteht er auf seinem Persönlichkeitsrecht, unkompliziert sterben zu können, ohne dabei ärztliche Hilfe oder eine Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen. Auch eine gesetzliche Neuregelung, die ihm nur weiter hinderlich würde, lehnt Mayer ab.

Quellen: daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Bundesverwaltungsgericht-kein-Anspruch-auf-Sterbehilfe-Medikament-vom-Staat,sterbehilfe444.html

swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/klaeger-harald-mayer-sehen-die-nicht-was-mit-mir-ist-100.html

Der Humanistische Verband Deutschlands – Bundesverband:

Der Humanistische Verband erklärt in seinem Magazin diesseits zunächst sein Verständnis für die Betroffenen: „Wir bedauern, dass es für die Kläger eine bittere Enttäuschung ist, sich nunmehr vergeblich jahrelang durch die beiden Vorinstanzen gekämpft zu haben. Wir wissen auch, dass diese Entscheidung für viele Menschen als staatliche Entmündigung angesehen wird, zumal nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unerfüllbare Hoffnungen geschürt worden sind, nun ohne gesetzliche Regularien auskommen zu können.“

Im jetzigen Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht sei jedoch angesichts der zahlreichen vorherigen Urteile nichts anderes zu erwarten gewesen: Demnach würden Suizidwillige nicht in ihrem Recht auf einen selbstbestimmten Tod verletzt, wenn der Staat ihnen den Zugang zu dem – in Deutschland auch gar nicht zugelassenen – tödlichen Barbiturat Natrium-Pentobarbital verwehre. Auch sei nachvollziehbar, dass es nicht für eine mögliche spätere Selbsttötung zu Hause verwahrt werden sollte – die Gefahren eines Fehlgebrauchs des Mittels, das einfach in Wasser auflösbar ist, seien besonders hoch. 

Schon in der Vorinstanz habe das Oberverwaltungsgericht des Landes NRW in Münster dieselbe Entscheidung wie jetzt das BVerwG so begründet: Auch das „legitime öffentliche Interesse der Suizidprävention“ müsse Berücksichtigung finden und von der Politik erst ein konkreter Gesetzesrahmen zur ärztlichen Verschreibung dieses Betäubungsmittels geschaffen werden. In einem – vom Humanistischen Verband Deutschlands geforderten – Suizidhilfegesetz wäre auch eine Änderung des Betäubungsmittelrechts zur regulierten Freigabe von Natrium-Pentobarbital zu berücksichtigen.

Quelle: diesseits.de/zur-debatte/2023/bundesverwaltungsgericht-natrium-pentobarbital/

Zwei Bundestagsabgeordnete (Katrin Helling-Plahr, FDP, und Paula Piechotta, Bündnis 90/Die Grünen):

Die FDP-Parlamentarierin Katrin Helling-Plahr betonte, die bestehende Rechtslage sei nicht zufriedenstellend. „Mit klaren Rahmenbedingungen, die das Recht auf selbstbestimmtes Sterben im Einklang mit dem gebotenen Schutz des Lebens achten, wäre den Betroffenen möglicherweise der lange, letztendlich erfolglose Rechtsweg erspart geblieben.“ Auch die Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta erklärte, das Urteil mache „deutlich, dass wir dringend im Bundestag zu einer Mehrheit für eine Neuregelung der Suizidhilfe kommen müssen“.

Quelle: pro-medienmagazin.de/kein-recht-auf-kauf-von-arznei-fuer-suizid/

„Legal Tribune online“-Kommentar (Christian Rath):

Mit eindringlichen Worten wird im Kommentar von Christian Rath im renommierten Rechtsportal Legal Tribune online auf eine zu große Gefahr hingewiesen: Natrium-Pentobarbital als salzähnliches und wasserlösliches weißes Pulver (wobei die tödlich wirkenden 15 g auf einen Esslöffel passen), könne leicht missbraucht oder auch versehentlich verwendet werden.

Die Kläger wollten von niemandem abhängig sein und bis zu einem eventuellen Suizid „hätten sie das Medikament in ihrem Haushalt lagern müssen, in der Nachttisch-Schublade, im Kühlschrank oder in der Medikamentenschachtel. Nicht jeder hat einen Tresor. […] Wenn aber ein so tödliches Medikament ungeschützt zu Hause gelagert wird, drohen vielfältige Gefahren: Der neue Pfleger könnte das Suizidmedikament mit einem Hustensaft verwechseln, die Enkel könnten den Totenkopf für ein lustiges Piratensymbol halten oder die Erben wollen den Erbfall beschleunigen.“ Rath zieht die Schlussfolgerung: „Um zu verhindern, dass die tödliche Substanz in falsche Hände kommt, dürfte es immer naheliegen, dass das Medikament von Helfer*innen erst ad hoc mitgebracht wird und nicht längere Zeit beim Sterbewilligen lagert.“

Quelle: lto.de/recht/meinung/m/bverwg-3c822-urteil-selbstbestimmtes-sterben-suizid-medikament-nap-kommentar-christian-rath/

Deutsche PalliativStiftung und Deutsche Stiftung Patientenschutz (Thomas Sitte und Eugen Brysch):

Wenig verwunderlich ist, dass die Deutsche PalliativStiftung in ausgewiesener Suizidhilfe-Gegnerschaft das BVerwG-Urteil ausdrücklich begrüßt. Das begehrte Natrium-Pentobarbital führe überdosiert zum Atemstillstand, die Patienten werden bewusstlos und sterben an Sauerstoffmangel. Dieselbe Wirkung wäre auch mit vielen anderen Medikamenten, vor allem mit einem altbekannten Narkosemittel, erreichbar. Hingegen würden „Suizidmittel nach Wunsch […] zu einer weiteren Normalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung und damit zur Enthumanisierung auch unserer Gesellschaft“ beitragen. Der Vorstandsvorsitzende und Palliativmediziner Thomas Sitte ergänzt: „Was wir zuallererst brauchen, ist ein Abbau von Fehlversorgung und eine flächendeckende Verfügbarkeit schneller Leidenslinderung bei schwerkranken Menschen. Da mangelt es immer noch und hierauf müssen sich die staatlichen und gesellschaftlichen Anstrengungen endlich fokussieren.“

Ebenso begrüßt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, das Leipziger Urteil. Er geht davon aus, dass das Bundesverwaltungsgericht seine eigene Rechtsprechung zur staatlichen Vergabe „revidiert“ hätte, was er für unbedingt richtig hält: „Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat keinen Auftrag, die Zuteilung von Natrium-Pentobarbital zu regeln. Beamte bekommen also nicht die Aufgabe, über Leben und Tod zu entscheiden.“

Quellen: osthessen-zeitung.de/einzelansicht/news/2023/november/kein-recht-auf-suizidmittel-nach-wunsch-palliativstiftung-lobt-urteil.html

pro-medienmagazin.de/kein-recht-auf-kauf-von-arznei-fuer-suizid


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