Suizidhilfe: Liberale Gesetzentwürfe fusionieren – Gegner appellieren und kritisieren
Wer weist – öffentlich vielbeachtet – gesetzliche Regelungen für eine besser verfügbare ärztliche Suizidhilfe als schädliche Verschlimmbesserung zurück? Was steckt hinter einem „Dringlichkeitsappell“ an die Bundestagsabgeordneten von zwei renommierten Theologen, Prof. Dabrock und Prof. Anselm, den gegenwärtigen Status beizubehalten? Genau dafür haben sich auch die Sterbehilfevereine schon seit längerem ausgesprochen. Welche Strategien werden von den jeweiligen Lagern für die jetzt angekündigte Abstimmung im Bundestag verfolgt?
Der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach fordert von der Politik jetzt eine schnelle Entscheidung – ein Suizid dürfe nicht länger ein Makel sein. Er ist Autor des Theaterstücks GOTT und des gleichnamigen Fernsehspiels, in dem eine Ethikkommission letztendlich die gewünschte Freitodassistenz eines Witwers zu bewerten hatte. Den Fragen, die darin verhandelt wurden, müssen sich nun endlich die Bundestagsabgeordneten stellen, so von Schirach.
Laut Parlamentskreisen wird eine gesetzliche Regelung der Suizidhilfe noch vor der Sommerpause angestrebt und für machbar erachtet. Demgegenüber besteht eine eigentümliche Übereinstimmung zwischen Suizidhilfevereinen und ihren Gegner: Beide haben appelliert, dass es zu keiner weiteren Behandlung im Bundestag mehr kommt – und wenn doch, fordern sie (mit entgegengesetzten Vorzeichen!) die Abgeordneten auf, alle vorliegenden Gesetzentwürfe abzulehnen. Es bestünde gar kein Regelungsbedarf, da es in Deutschland doch seit eh und je eine klare Rechtslage gibt: Danach sind Ärzt*innen – heute wie immer schon – wegen Hilfe bei nicht als freiwillensfähig geltenden Suizident*innen mit Strafe bedroht.
Doch eine prozedurale Sicherung ihrer Autonomie wirft Fragen auf, wie ein aktueller Fall zeigt: Gegen den Berliner Arzt Dr. T. wurde aufgrund von zwei Jahre zurückliegenden Tatbeständen Anklage erhoben. Er hatte einer 37-jährigen depressiven Studentin Suizidhilfe geleistet. Es droht eine mehrjährige Gefängnisstrafe laut Staatsanwaltschaft wegen „Totschlags in mittelbarer Täterschaft“.
Das bis vor kurzem noch aussichtsreichste interfraktionelle Gesetzesvorhaben ist mit dem Namen seines Hauptvertreters Lars Castellucci verbunden. Es ist das restriktivste und wird vorwiegend von Abgeordneten der Union unterstützt. Danach soll die Suizidbeihilfe über das Strafrecht wieder in einem § 217 StGB geregelt werden und mit bis zu drei Jahren Haft zu ahnden sein. Nicht rechtswidrig wäre die geschäftsmäßige Sterbehilfe nur dann, wenn strengste Sorgfaltspflichten und Zeitrahmen eingehalten wurden. Dabei soll zunächst jeder Sterbewillige von zwei psychiatrischen Fachärzt*innen auf seine Willensfähigkeit untersucht worden sein.
Wie von den meisten zivilgesellschaftlichen Kritiker*innen des Vorschlages von Lars Castellucci u. a. erhofft, haben sich gegen diesen strafrechtlichen Ansatz nun die beiden als liberal geltenden Abgeordnetengruppen zusammengeschlossen. Die bisher miteinander konkurrierenden Entwürfe (beide außerhalb des Strafrechts) wurden von Katrin Helling-Plahr (FDP), Helge Lindh (SPD) u.a. bzw. von Renate Künast (Grüne), Nina Scheer (SPD) u.a. verfasst. Die nunmehr erzielte Einigung enthält eine Sonderklausel für Suizidhilfewünsche im Zusammenhang mit medizinischer Notlage (vor allem bei unheilbar schwerer Krankheit). Für alle anderen Sterbewünsche aufgrund beliebiger Motivlagen liegen die Anforderungen höher. In diesen Regelfällen sollen tödlich wirkende Mittel von Ärzt*innen erst nach obligatorischer psychosozialer Beratung verschrieben werden. Dazu ist, wie zuvor schon im Entwurf von Helling-Plahr u.a., ein flächendeckendes Netz von staatlich anerkannten und finanzierten Beratungsstellen in pluralistischer Trägerschaft vorgesehen.
Renommierte Theologen für Beibehaltung des ungeregelten Ist-Zustandes
Damit haben sich die Chancen für eine Regelung, welche die ärztliche Verschreibung etwa auch von Natrium-Pentobarbital rechtssicher machen will, deutlich verbessert. Als Ziel ihres nunmehr gemeinsam vertretenen Gesetzentwurfs geben Helling-Plahr, Lindh, Künast, Scheer u.a. an, den Zugang zum selbstbestimmten Sterben und die Hilfe bei Suizidalität für alle zu gewährleisten – also nicht nur für körperlich Erkrankte oder Hochbetagte, sondern auch für Jüngere und allgemein für Menschen in unterschiedlichsten Lebenslagen. Offene Beratungsgespräche sollen sowohl über Zugangsmöglichkeiten zur ärztlichen Suizidassistenz als auch über Alternativen dazu sowie Präventionsmöglichkeiten einfühlsam und keinesfalls bevormundend geführt werden. Dabei ist, wie einige andere Länder mit vergleichbaren Bedingungen zeigen, langfristig mit einer Zunahme von professionell begleiteten Suiziden zu rechnen.
Dass keine der beiden Gesetzesalternativen im Parlament eine Mehrheit findet, ist angesichts der weit überwiegenden Zahl von Abgeordneten, die sich am liebsten gar nicht mit der Thematik beschäftigen möchten, durchaus möglich. Diese dürften sich von einem jüngst in der FAZ veröffentlichten „Dringlichkeitsappell“ besonders angesprochen fühlen – der womöglich strategisch auf sie abzielt.
Die beiden Theologieprofessoren Peter Dabrock (Uni Erlangen), der lange Jahre Ethikratsvorsitzender war, und Reiner Anselm (Uni München) haben einen viel zitierten und kommentierten ganzseitigen Gastbeitrag in der FAZ veröffentlicht (zusammen mit einer Palliativmedizinerin und einem Staatsrechtler). Ihr dringender Appell dort mag mit seinen Begründungen durch Autoren, die zu den renommiertesten evangelischen Kirchenvertretern gehören, überraschen. Diese hatten zuvor dargelegt, einer möglichen Suizidhilfe in kirchlichen und/oder hospizlichen Einrichtungen sehr zurückhaltend bis entschieden ablehnend gegenüberzustehen, insbesondere was mitwirkende Vertreter*innen von Sterbehilfeorganisationen betrifft. Doch diese mittels des von Castellucci u.a. vorgelegten Verbotsgesetzes einschränken zu wollen, ist nun nicht das Anliegen von Dabrock und Anselm.
Sie fordern vielmehr dazu auf, in einer – nun ja bevorstehenden – parlamentarischen Abstimmung jede Art von gesetzlicher Regelung zurückzuweisen. Es sei gesetzlich verfehlt, „komplizierte Konstruktionen zu ersinnen, die die (juristisch sogenannte) Freiverantwortlichkeit … sicherstellen sollen.“ Die in der Folge erheblichen finanziellen und personellen Ressourcen sollten vielmehr ausschließlich der Suizidprävention und darunter vor allem der Hospiz- und Palliativversorgung für unheilbar Schwerstkranke zufließen.
Insbesondere eine kostenfreie „flächendeckende Suizidassistenzberatung“ oder prozedurale Sorgfaltsvorschriften in den Entwürfen von Helling-Plahr u.a. und Künast u.a. enthielten „Tendenzen zur Implementierung einer Gewährleistungsverantwortung des Staates für die Gewährleistung des Suizids“. Aber letztlich würden alle bisher interfraktionell vorgelegten Regelungsvorschläge, also auch der von Castellucci u.a. (!) zu einer Standardisierung von einzuhaltenden Kriterien führen und „damit die ärztliche Suizidassistenz zu einem regulären Angebot aufwerten“. Durch mehr staatlich vermittelte Rechtssicherheit würde „der Zugang zu letalen Betäubungsmitteln einem bürokratischen Verfahren überantwortet“. Vor allem würde damit einer gefährlichen „Normalisierung“ Vorschub geleistet und die ärztliche Hilfe zur Selbsttötung erheblich ausgeweitet. Diese müsse laut Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2020 zwar möglich sein, wäre de facto ohne gesetzliche Förderung aber lediglich in Grenzen zu beanspruchen. So gebe es seit 2020 – über die jährlich knapp 9.000 Suizide in eigener Regie hinaus – nur im unteren dreistelligen Bereich in der Regel auf zahlungskräftige Mitglieder von Sterbehilfeorganisationen beschränkte Assistenzfälle. In diesem Zusammenhang warnt der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, vor der Gefahr, dass durch eine gesetzlich geförderte ärztliche Hilfe zu Selbsttötungen „mindestens 20.000 organisierte Suizide jährlich hinzukommen”.
Dabrock und Anselm betonen im FAZ-Gastbeitrag, seit dem Karlsruher Urteil wäre die allgemeine Lage für Suizidwillige doch durchaus verbessert geworden. Dabei seien es Wohlfahrtsverbände wie Diakonie oder Caritas, die sich am besten mit den ambivalenten Hintergründen bei Bitten um Sterbehilfe auskennen. Ihre Einrichtungen hätten mit enttabuisierenden Gesprächsangeboten auf das Urteil reagiert und in unerträglichen Leidenssituationen könne eine „palliative Sedierung“ als Alternative angeboten werden. Zudem hätten zur Selbsttötungshilfe bereitwillige Ärzt*innen in den verbleibenden seltenen Ausnahmefällen nichts mehr zu befürchten, seitdem die Bundesärztekammer ihre berufsrechtliche Verbotsrichtlinie zurückgenommen hat.
Irritierende Übereinstimmung von Sterbehilfevereinen und ihren Gegnern
Die Begründung der Theologieprofessoren für eine Beibehaltung der zurzeit bestehenden Lage lautet zusammengefasst: Alle im Bundestag eingebrachten Regelungsentwürfe ließen eine “Verschlimmbesserung” befürchten, seien zudem überflüssig und somit nicht notwendig. Es wären bisher „keine Probleme erkennbar“, die auf einen Dammbruch hinweisen.
Eine Irritation besteht nun darin, dass die genannten Argumente denen entsprechen, welche auch von einem Aktionsbündnis für das Recht auf „letzte Hilfe“ und selbstbestimmtes Sterben angeführt werden. Es besteht aus den Suizidhilfevereinen DIGNITAS-Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben und Verein Sterbehilfe im Zusammenschluss mit der säkularen Giordano-Bruno-Stiftung. Von dem Bündnis sowie auch dem ihm nahestehenden Zentralrat der Konfessionsfreien wird seit 2022 offensiv in der Öffentlichkeit vertreten, alle drei der bisherigen Gesetzentwürfe wären als entmündigend und reglementierend abzulehnen, wobei der von Castellucci u.a. eines neuen § 217 StGB natürlich ganz besonders auf scharfe Kritik und auf absolute Ablehnung stößt. Allerdings sei nicht nur dieser laut Bundesverfassungsgericht eindeutig verfassungswidrig, sondern entsprechende Bedenken gäbe es auch gegen die als liberal geltenden Gegenvorschläge. Denn diese verordneten ja staatlicherseits Pflichtberatungen – die angeblich unweigerlich einen unzulässigen Rechtfertigungszwang über die eigene Motivlage mit sich bringen würden. Dies sei ein Verstoß gegen Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht – zumal noch Wartefristen für die Prüfung der Dauerhaftigkeit des Sterbewillens hinzukämen. In einem gemeinsamen Appell drohte das Bündnis an, bei Umsetzung von Beratungspflichten, das heißt gegen jeden der Entwürfe, sofort wieder vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.
Dabei sehen die Sterbehilfevereine offenbar durch psychosoziale Beratungsgespräche in pluralistischer Trägerschaft eine Gefährdung dessen, was ihre eigenen Angebote ausmacht. Sandra Martino, Vorsitzende von DIGNITAS-Deutschland, erklärte auf einer Pressekonferenz des Bündnisses für ihre Organisation, „dass es dank des seit Jahrzehnten bewährten Prinzips zur Prüfung von Freiverantwortlichkeit und Wohlerwogenheit des Sterbewunsches in den zurückliegenden zwei Jahren bei Freitodbegleitungen in Deutschland keinerlei Probleme gab. Warum also sollte der Staat, der sich auf diesem sensiblen Gebiet nicht auskennt, nun neue Regularien erlassen, welche die Lage notleidender Menschen zusätzlich erschweren?“
Zurückrudern von überzogener Ablehnung
Der Herausforderung, dass geeignete Ansprechpartner*innen erst sicher verfügbar sein müssen, sind die Vertreter*innen eines flächendeckenden Beratungsnetzes mit einer normierten Übergangsregelung begegnet. Wie von ihnen verlautet, gäbe es jedenfalls vor und aber auch nach dessen Aufbau für die bisherige organisierte Suizidhilfepraxis keine Einschränkungen.
Aber warum sollte beim Zusammenlegen der beiden Gruppenentwürfe um Helling-Plahr und Künast im Regelfall auf normierte Pflichtberatungen oder Wartefristen bis zur gesicherten Verschreibung von Suizidmitteln verzichtet worden sein? Davon meinte fälschlicherweise zunächst der Zentralrat der Konfessionsfreien ausgehen zu können, wenn er in einer Presseerklärung vom 7. Juni den angekündigten gemeinsamen Vorschlag vollmundig als „neue Chance für liberale Suizidhilfe“ bezeichnete. Diese bestünde darin, so der Vorsitzende Philipp Möller, „letzte Einschränkungen der Selbstbestimmung zu streichen”. Eine Woche später zeigte sich Möller allerdings eines Besseren belehrt. In der Presseerklärung vom 13. Juni „Konfessionsfreie kritisieren neuen Vorschlag“ wird er zitiert mit dem Verweigerungssatz „Dann lieber kein Gesetz als ein schlechtes Gesetz.”
Demgegenüber hat der Humanistische Verband Deutschlands den neuen liberalen Gesetzentwurf vorbehaltlos begrüßt. Es sei gelungen, ein selbstbestimmtes Lebensende für alle zu ermöglichen. Als Gründe für eine positive Bewertung können seine Klarheit und Überschaubarkeit angeführt werden. Seine Härtefall- und Übergangsregelung zeigen zudem, wie sehr die Vertreter*innen um eine pragmatische Lösung im Sinne der betroffenen Menschen bemüht sind.
Ohne von früheren Vorwürfen und Androhungen zurückzurudern, kann das Aktionsbündnis, welches auch unter „Mein Ende gehört mir“ auftritt, die neue liberale Gesetzesvorlage kaum unterstützen. Seine aktuelle politische Kampagne steht nun unter dem Motto: Wer die Verfassung nicht versteht, gehört nicht in den Bundestag! Sie wendet sich an die 140 Bundestagsmitglieder, die schon 2015 für einen § 217 StGB gestimmt hatten und die heute noch amtieren. Das Anschreiben an sie endet mit der Aufforderung: “Krönen Sie Ihre politische Karriere nicht damit, dass Sie gleich zweimal für ein verfassungswidriges Gesetz gestimmt haben!“ Wer dies womöglich einem der Abgeordneten in seinem*ihrem Wahlkreises persönlich nahebringen möchte, kann sich die nach Parteien sortierte Namensliste am Ende der Kampagnenseite ansehen.
Autorin dieses Beitrags ist Gita Neumann. Wenn Sie ihre Analyse wertschätzen, können Sie eine anerkennende Zuwendung – gern mit persönlicher Nachricht – hier direkt vornehmen: www.patientenverfuegung.de/spenden