Suizidhilfegesetz in Sicht – Bundestagsabgeordnete debattierten
Ein ambitionierter Anlauf für eine gesetzliche Regelung der Suizidhilfe sieht für 2022 vor: Nach einer eben erfolgten Orientierungsdebatte und dann möglicherweise ersten Lesung noch vor der Sommerpause soll Ende des Jahres einer der drei vorliegenden Entwürfe verabschiedet werden. Gute Aussichten hätte gegenüber einem liberalen Ansatz eine neue Strafbarkeitsregelung, die mit einem flankierenden Sonderprogramm zur nationalen Suizidprävention für sich wirbt.
Die drei 2022 veröffentlichten, jeweils fraktionsübergreifenden (ohne AfD) Entwürfe waren am 18. Mai Gegenstand einer Orientierungsdebatte im Bundestag. Sie lagen bereits in der vorigen Legislatur vor. Änderungen betreffen jetzt – neben minimalen Änderungen im Text – nur einige Verschiebungen bei den Initiator_innen. Alle Vorschläge gehen in ihrer Begründung davon aus, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes von Februar 2020 zu erfüllen (wobei diese entweder bedauert oder begrüßt werden). Alle müssen oder wollen eine entsprechende Änderung des Betäubungsmittelrechtes einführen, damit überhaupt tödliche Mittel verfassungskonform verschrieben und Suizidwilligen überlassen werden können. Aber welche Aufgaben wird die kostenfreie Beratung haben, die bei der Neuregelung der Suizidhilfe laut allen Entwürfen mehr oder weniger umfassend eingeführt werden soll? Hier bestehen erhebliche grundsätzliche Unterschiede zwischen den Zielsetzungen der jeweiligen Abgeordnetengruppen.
Gegensatz zwischen Suizidprävention und -hilfe soll überwunden werden
Ein liberaler Ansatz wird von dem SPD-Abgeordnete Helge Lindh vertreten, der zum Debattenauftakt den Tenor der neuen Aufgabenstellung für alle Bundestagsabgeordneten laut Süddeutscher Zeitung so ansprach: „Moralisch, ja religiös oder ethisch mag man Hilfe beim Suizid für falsch halten.“ Aber dass sie als Verwirklichung des Persönlichkeitsrechtes auf selbstbestimmtes Sterben grundgesetzlich geboten sei, das habe das Bundesverfassungsgericht nun 2020 unmissverständlich erklärt, und zwar prinzipiell für alle Bürger_innen, wobei der Staat ihnen die Realisierung auch zu ermöglichen habe, egal ob sie alt und krank oder jung und gesund wären. Diese Herausforderung müsse sich nun der Gesetzgeber gewissermaßen zumuten. Umgekehrt dürfe daraus aber “keine Zumutung für die Betroffenen und potenziellen Helfer gemacht werden”. Ein neuer Straftatbestand sei indiskutabel. Lindh warb, wie das ZDF berichtete, für eine Neuregelung, die nach einer multiprofessionellen Beratung der Hilfesuchenden für sie auch den Weg zur ärztlichen Suizidassistenz durch suizidtaugliche Medikamente eröffnet.
Der Humanistische Verband Deutschlands hat in sieben Orientierungspunkten, die allen Bundestagsabgeordneten zugesandt worden waren, aufgrund seiner 30-jährigen Praxiserfahrung herausgestellt: Der herkömmliche Gegensatz zwischen Suizidhilfe und -verhütung muss endlich überwunden werden. In neu zu schaffenden psychosozialen Beratungsstellen müsse es darum gehen, eine vertrauensbildende und wertschätzende Atmosphäre zu schaffen. Dabei haben selbstverständlich allein die Betroffenen das letzte Wort, die sich in keiner Weise zu rechtfertigen oder auch nur ihre Namen oder ihre Motive preiszugeben haben, wenn sie sich zum Beispiel nur über bestehende Möglichkeiten informieren möchten.
Der restriktivste Gesetzentwurf: Neuer Straftatbestand § 217 und Psychiatrisierung
Der 2021 vorwiegend aus dem Hause des damaligen Gesundheitsministers und der Union (namentlich derzeit als Initiatoren: Ansgar Heveling /CDU und Stephan Pilsinger /CSU) wird jetzt vertreten von Lars Castelluci (SPD) und Kirstin Kappert-Gonther (Grüne). Er sieht in einem neuen § 217 StGB wieder eine allgemeine Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe vor, von der dann für eine Erlaubnis allerdings Ausnahmebestimmungen gelten sollen. Dabei stechen lange Wartefristen und besonders zwei obligatorische psychiatrische Begutachtungen heraus. Die zudem vorgesehene Pflichtberatung von freiwillensfähigen Suizidwilligen über mögliche Alternativen zum Suizid scheinen demgegenüber weniger relevant.
Flankierend (sozusagen als Junktim) legen die Initiator_innen einen Antrag Suizidprävention zu deren systematischer Verbesserung in einem nationalen Förderprogramm vor. Vermieden werden sollen damit die mehrheitlich spontan – beziehungsweise unüberlegt aufgrund einer akuten Krise – durchgeführten Selbsttötungsversuche. Richtig daran ist sicherlich die Begründung: „Für viele Menschen mit Suizidgedanken und für deren Angehörige ist es nicht leicht, sich Hilfe zu suchen bzw. zu finden, da diese oft nicht ausreichend verfügbar ist. Betroffene haben zudem angesichts der Tabuisierung Angst vor Stigmatisierung, wenn sie offen über ihre Suizidgedanken sprechen. Entscheidend ist der Zugang zu Hilfsangeboten in einer solchen Situation, die Unterstützung in belastenden Lebenssituationen ermöglichen.“
Dies und der gemeinsame Tenor mit dem eigentlichen Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe und Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit hat offensichtlich bereits viele Unterstützer_innen überzeugt, darunter einige namhafte MdB und Funktionsträger sowie die Minister_innen Hubertus Heil (SPD), Bettina Stark-Watzinger (FDP), Claudia Roth und Cem Özdemir (beide Grüne). Es käme auf die Balance an, „die selbstbestimmte Entscheidung von Menschen zu respektieren, andererseits einer Normalisierung des Suizids vorzubeugen, die den gesellschaftlichen Druck auf verletzliche Gruppen verstärken und damit die Selbstbestimmung einschränken würde“. Dass es sich bei diesem Antrag um eine leicht abweichende Form des Straftatbestands § 217 handelt, der vom Bundesverfassungsgericht 2020 gekippt wurde, scheint dabei die Unterstützer_innen nicht zu interessieren.
Der liberalste Gesetzentwurf: Flächendeckend multiprofessionelle Beratungsstellen
Ein Gegenentwurf nennt sich schlicht „Zur Regelung der Suizidhilfe“. Er gibt als Ziel vor, einen klaren Rechtsrahmen zu schaffen. Entsprechend heißt es dort einleitend: „Jeder darf einem anderen, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, Hilfe leisten und ihn bis zum Eintritt des Todes begleiten.“
Hinsichtlich der Aufgaben der geplanten kostenfreien Beratung sticht in diesem Ansatz heraus, dass die bundesweit zu etablierenden multiprofessionell zu besetzenden Beratungsstellen von zentraler Bedeutung sind. Dem Antrag zufolge soll einem Suizid immer ein ergebnisoffenes Gespräch vorausgehen, in dem Alternativen wie beispielsweise eine mögliche palliativmedizinische Versorgung oder andere Hilfsangebote – wie z. B. zur Sucht- oder Schuldenberatung – zur Sprache kommen. Dafür ist die Schaffung eines aus öffentlichen Mitteln finanzierten, nicht-staatlichen Netzes von frei zugänglichen Beratungsstellen vorgesehen. Solche Gespräche sollen auch aufsuchend in häuslicher Umgebung stattfinden können. Einem danach zum Suizid entschlossenen Klienten würde ein Beratungsschein zur Vorlage bei einem Arzt ausgehändigt, der dann Mittel zur Selbsttötung rechtskonform verschreiben kann.
Expert_innen berieten im März 2022 darüber auf Einladung von Katrin Helling-Plahr (FDP), Helge Lindh (SPD), Petra Sitte (Linke) und Otto Fricke (FDP), die diesen liberalen Ansatz als Initiator_innen vertreten. An der Veranstaltung nahmen neben den Initiator_innen und weiteren Bundestagsabgeordneten folgende Expert_innen teil:
- Dr. Helmut Frister, Ethikratsmitglied, Professor der Rechtswissenschaften
- Dipl.-Psych. Gita Neumann, Medizinethikerin im Humanistischen Verband Deutschlands
- Prof. Jan Schildmann, Institut Geschichte und Ethik der Medizin (Halle-Wittenberg)
- Dr. Christoph Knauer, Ausschussmitglied der Bundesrechtsanwaltskammer
Im Tagesspiegel Background Gesundheit (vom 31.03.) wird von der Podiumsdiskussion berichtet, dass laut Petra Sitte (Linke) schon bald nach einer Orientierungsdebatte im Bundestag die erste Lesung stattfinden könnte. Im Herbst wäre dann die zweite und dritte Lesung zur Verabschiedung vorstellbar. Sitte machte deutlich, dass so bald wie möglich bedürftige Suizidwillige Betäubungsmittel wie Natrium-Pentobarbital erhalten können sollen.
Prof. Frister kündigte eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats etwa für September an. „Die Frage, wann jemand entscheidungsfähig ist, wird dabei ein Schwerpunkt sein.“ Schließlich sei dies die Voraussetzung dafür, einem Menschen bei der Selbsttötung zu helfen. Um zu gewährleisten, dass dessen Entschluss dazu freiverantwortlich und ohne äußere Einflussnahme oder mangelhafte Informiertheit erfolgt sei, wäre deshalb auch eine Beratungsverpflichtung verfassungsmäßig zulässig.
Professor Knauer, der sich in Karlsruhe für die Streichung des § 217 StGB eingesetzt hatte, attestierte der Gruppe, bislang am nächsten „bei den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zum assistierten Suizid zu liegen.“ Eine vorausgehende Beratung diene vor allem den zur Suizidhilfe bereiten Ärzt_innen zur zusätzlichen Absicherung. Die Überprüfung eines nachhaltigen Todeswunsches stelle sich, erläuterte der Internist Jan Schildmann aus Sicht der Ärzt_innenschaft, „im medizinischen Alltag alles andere als trivial dar“. Gita Neumann hinterfragte die bestehenden „Standards“ etwa in Skalen zur Depressionsdiagnostik. „Da werden hochbetagten, lebenssatten oder schwerpflegebedürftigen Menschen sofort diese Stempel aufgedrückt, wenn sie sich ein baldiges Lebensende wünschen.“
Sowohl Neumann als auch Schildmann und Frister plädierten für ergebnisoffene Beratungsmöglichkeiten für Menschen mit Selbsttötungsabsichten oder auch nur -gedanken. Wie deren Ansatz dann auszusehen hat, ob etwa nur „informativ“ (und dabei verpflichtend) oder auch „deliberativ“ (das heißt: auf freiwilliger Basis beratschlagend und auch Bedenken einbeziehend), müsste sich zeigen.
Bemerkenswerterweise enthält der liberale Gesetzentwurf bei Nichtbeachtung, d.h. auch ohne verpflichtende Beratungsbescheinigung, für verschreibende Ärzt_innen (und somit auch für Sterbehilfevereine) keinerlei Sanktionierung. Erst recht gelte, so Helling-Plahr bei der Podiumsdebatte, dass alle „weiter so gewähren können wie bisher“, wenn nach Inkrafttreten des Gesetzes noch gar keine entsprechenden Stellen vorhanden sind. Der liberale Entwurf verzichtet nicht nur auf jegliche strafrechtliche Bestimmung, sondern auch auf Ordnungswidrigkeiten. Diesem Gruppenantrag ist mit Till Steffen erstmals auch ein grüner Abgeordneter beigetreten – rechtzeitig zur Orientierungsdebatte im Bundestag, wo er auch das Wort ergriff.
Der komplizierteste Gesetzentwurf: Neue Bewillungsbehörden auf Landesebene
Sanktionen sind jedoch im Entwurf von Renate Künast und Katja Keul (beide Bündnis 90/ Grüne) vorgesehen, wenn umfassende Sorgfaltsmaßnahmen und Dokumentationspflichten nicht befolgt werden. Die von ihnen vorgeschlagenen Beantragungs- und Prüfverfahren bedeuten einen hohen bürokratischen Aufwand seitens staatlicher Behörden durch neu zu schaffende „nach Landesrecht zuständige Stellen“, denen eine zentrale Rolle zufällt. Als ergänzende Voraussetzung gilt, dass sich „Sterbewillige“, die nicht schwerkrank sind, von einer zugelassenen unabhängigen Beratungsstelle zweimal haben beraten lassen. Künast und Keul richten sich mit ihrem Gesetzentwurf_Sterbehilfe zwar ebenfalls gegen einen neuen § 217 StGB – der vorgestellte Ansatz gilt allerdings als hochkomplex und unpraktikabel. Er normiert in zwei Paragrafen ein jeweils völlig anderes Procedere – je nachdem, ob es sich um Patient_innen in einer besonderen medizinischen Notfallsituation handelt oder um alle anderen „Sterbewilligen“. Dies würde enorme Abgrenzungsschwierigkeiten bedeuten. Zudem hätte jeder, der bei Verschreibung oder Verwahrung eines suizidtauglichen Betäubungsmittels nicht die vorgegebenen Normierungen und Differenzierungen eingehalten hat, „mit einer Geldbuße bis zu hunderttausend Euro“ zu rechnen. Auch meinen Künast und Keul, bei „schwerem Missbrauch“ nicht auf das Strafrecht verzichten zu können.