Wenn das Leben zur Qual wird: Wann haftet der Arzt?
Wie wirkt es sich aus, wenn bei aussichtslosem Bewusstseinsverlust keine Patientenverfügung vorliegt? Die Story im Ersten „Dem Sterben zum Trotz“ fragt zudem: Wer profitiert davon, wenn leidvolles Leben immer weiter verlängert wird? Und kann eine künstliche Ernährung ohne Vorsorge gar nicht abgebrochen werden – so wie bei dem Vater von Heinz Sening? Sein Fall wurde vom Medizinrechtsexperten Wolfgang Putz bis vor den Bundesgerichtshof gebracht, es folgte noch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Dessen Entscheidung liegt nunmehr seit April vor.
Der Medizinrechtsexperte Wolfgang Putz hat den „Sening-Fall“ vertreten. Der Sohn Heinz verklagte den Arzt seines Vaters, weil dieser den schwerst demenzkranken und zudem gelähmten Heimbewohner fünf Jahre lang durch künstliche Ernährung am Leben erhalten hat, wobei dieser von Schmerzen und Erstickungsanfällen gepeinigt war. In den letzten Lebensjahren des alten Mannes (Jg. 1929) waren bei schließlich völligem Kommunikationsverlust Druckgeschwüre und Krankenhauseinweisungen aufgrund von Entzündungen (einmal der Gallenblase und viermal der Lunge) hinzugekommen. Kann aus Haftungsgründen der behandelnde Arzt (in diesem Fall nach dem Tod des Patienten – entgegen allen Versuchen zur Lebensverlängerung) zu Schmerzensgeld und Schadensersatz verurteilt werden, auch wenn keine wirksame Patientenverfügung vorliegt?
BGH-Grundsatz: Das Leben kann niemals ein Schaden sein
Der Sohn mit Wohnsitz in Amerika, der die Verlängerung des Leidens seines Vaters Heinrich Sening bereits vergeblich durch Rechtsmittel zu beenden versucht hatte, klagte dann als Alleinerbe (mit allen Verpflichtungen wie auch Ansprüchen) auf Ersatz der erheblichen Pflegekosten und auf Zahlung von Schmerzensgeld. Eine wesentliche Motivation war auch, eine medizinrechtliche Debatte um diese grundsätzliche Frage anzustoßen.
Denn es ging und geht darum, ob in extremen Situationen „Leben als Schaden“ angesehen werden kann, für dessen Erhaltung der verantwortliche Arzt auch haften müsse. 2019 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) dies im geschilderten Fall verneint. Dagegen wurde von Heinz Sening zusammen mit seinem Anwalt Putz Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingereicht – und von diesem im April 2022 zurückgewiesen. (Allerdingst mit einer modifizierenden Begründung und Bekräftigung der Arzthaftung für den Fall, dass eine Patientenverfügung vorliegen würde. Dazu am Ende mehr.)
Vom BGH war – was dann eben zur Verfassungsbeschwerde geführt hat – bezüglich der Zurückweisung der Geldforderungen des Klägers als Begründung vorgetragen worden: Der Wille des offensichtlich Schwerstleidenden hätte sich hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltender Maßnahmen auch anderweitig (als über eine fehlende Patientenverfügung) mangels Kommunikationsfähigkeit nicht ermitteln lassen. Wie viel Behandlung dieser selbst gewünscht hätte, würde niemand wissen – auch ein offensichtlich qualvolles Weiterleben objektivistisch als für ihn schädlich zu bewerten, verbiete sich.
Dabei würden laut Putz mehrere Gutachten belegen, dass das Leiden von Heinrich Sening nach medizinischen Standards nicht hätte verlängert werden dürfen; der Verstoß dagegen sei als klarer Behandlungsfehler des Arztes zu werten. Es könne nicht sein, dass alle, auch diejenigen, die vielleicht vor zehn Jahren dieses Instrument noch gar nicht kannten, für ihre spätere Versorgung mit hinreichender Schmerztherapie und palliativer Sterbebegleitung eine Patientenverfügung bräuchten. “Nein, Ärzte müssen auch so richtig behandeln und haben Verantwortung dafür“, erläuterte Putz im Bayerischen Rundfunk. Dass das Leben unbedingt erhalten werden müsse, sei „zu einer früheren Zeit richtig gewesen“. Durch den medizinischen Fortschritt hätten sich aber Machbarkeiten ergeben, die zu hinterfragen sind. Ärzt_innen hätten demgegenüber seit Jahrzehnten verinnerlicht, dass das Machbare – auch rechtlich – ohne anderslautende Willenserklärung zumindest nicht falsch sein könne.
Sich wirksam vor dem Diktat des Machbaren schützen
Die Auswirkungen solcher Haltungen hat die Autorin Alexandra Hardorf aufgrund ihrer investigativen Recherchen in ausdrucksvollen Bildern und einfühlsamen Interviews dokumentiert. Sie nähert sich individuellen Schicksalen an und analysiert dabei die komplexen Strukturen des deutschen Gesundheitssystems. Ihre Story im Ersten „Dem Sterben zum Trotz“ (abrufbar bis November 2022) fragt: Wann ist es Zeit, eine Therapie abzubrechen? Wie kann ich meinen letzten Willen durchsetzen?
Hardorf deckt auf, wie die Ökonomisierung des Gesundheitssystems den Menschen aus dem Blick zu verlieren scheint und große Not nicht nur bei Patient_innen und Angehörigen auslöst, sondern auch bei Pflegekräften und vor allem bei Ärzt_innen. Denn diese werden zumindest subtil von den betriebswirtschaftlichen Vorgaben ihrer Häuser unter Druck gesetzt – das Gesundheitssystem bezahlt nach Aufwand. Die Folgen haben besonders die Menschen zu tragen, die am ältesten und schwächsten sind. Im Pressetext des Films heißt es dazu: „Unnötige Operationen, exzessive Blutreinigungen und quälende Therapien ohne Ziel … mittlerweile wird etwa jeder dritte Sterbende noch beatmet.“ Der Palliativarzt und Kritiker Mathias Thöns äußert im Gespräch mit der Autorin: “Eine Vielzahl dieser Behandlungen am Lebensende geschieht sogar gegen, oder zumindest ohne den ausdrücklichen Willen der Menschen.”
Thöns und Putz sind enge Weggefährten und haben die Dokumentation maßgeblich mit auf den Weg gebracht und unterstützt. Mit ihrer Beratung wird schließlich auch dargelegt, wie Menschen sich gut und wirksam absichern können. Gezeigt werden ab 30ster Filmminute alle Formulare für eine empfehlenswerten „Standard“-Vorsorge der Zentralstelle Patientenverfügung in Berlin (orange für eine wirksame Patientenverfügung, magenta und türkis für die ergänzenden Vollmachten). Anhand derer erklärt der Film, welche Dokumente im Ernstfall wichtig sind, worauf man im Krankenhaus achten sollte und was jeder Einzelne einfordern darf. In der Zentralstelle Patientenverfügung wird bei Hinterlegung dort zusätzlich durch einen Bereitschaftsdienst die spätere Durchsetzung begleitet.
Putz: Wir können nicht so tun, als ob die Medizin wertfrei sei
Wolfgang Putz vertrat vor den Gerichten, der Arzt hätte das Ziel der Therapie zum Patientenwohl dringend ändern müssen – nämlich dahin¬gehend, das Sterben von Heinrich Sening durch ein Ende der lebenserhaltenden Maßnahmen zuzulassen. Der Anwalt, der auch Lehrbeauftragter an der Uni München ist, bekräftigte darüber hinaus, Ärzt_innen müssten rechtlich gesehen in solchen Fällen von sich aus an den Betreuer oder Gesundheitsbevollmächtigten eines aussichtslos Schwerstkranken herantreten und mitteilen, dass für eine weitere künstliche Ernährung keine Indikation mehr bestehe. Auch aus ethischer Sicht wollte Putz höchstrichterlich erstreiten, dass nicht nur dann in bestimmten Fällen der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen geboten ist, wenn die Betroffenen Patientenverfügungen besitzen. Es geht ihm darum, dass Ärzt_innen auch eine entsprechende Indikation stellen können und müssen. „Wir können nicht so tun, als wenn Medizin wertfrei sei“, sagte Putz im Ärzteblatt. Irgendwann müsse überlegt werden, ob es länger vertretbar sei, „entsetzliche Zustände zu verlängern“.
Doch der Bundesgerichtshof hat anders entschieden. Das Gericht formulierte dabei eine fragwürdige Grundsatzaussage (2. April 2019 – VI ZR 13/18):
„Hier steht der […] Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingten Leiden dem […] Tod [gegenüber]. Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen […].“
Richtig ist sicherlich, dass vor allem dem Staat kein Werturteil über das menschliche Leben zusteht – eine Einsicht, die in Deutschland aus historischen Gründen besonders schwer wiegt. Aber die Nationalsozialisten haben zur „Rechtfertigung“ ihrer 100-tausendfachen grausam durchgeführten Morde ihre Opfer, die durchaus weiterleben wollten (!), als „lebensunwerte“ Existenzen bezeichnet. Das sollte nicht dazu führen, dass heute kein Schicksal eines dauerhaft kommunikationsunfähigen Menschen – wie aussichtslos quälerisch und peinigend es auch sei – niemals mehr als lebensunwert bezeichnet werden könnte.
Votum des Bundesverfassungsgerichtes vom 7. April 2022
Auch deswegen zog RA Putz im Namen von Heinz Sening gegen das BGH-Urteil schließlich vor das Bundesverfassungsgericht. Die vorgebrachte Verfassungsbeschwerde wurde indes – teils aus formalen Gründen – im streitgegenständlichen Fall nicht zur Entscheidung angenommen. In der Begründung ihrer Ablehnung vom April dieses Jahres erkannten die Karlsruher Richter_innen allerdings in engen Grenzen grundsätzlich Schadensersatz für Leidensverlängerung an. Die Interessenverfolgung wäre vom Sohn allerdings ausschließlich auf den Verstoß gegen medizinische Standards, nicht aber auf den Verstoß gegen den Willen seines Vaters (der eben nicht zu ermitteln war) gestützt.
Anders wäre es gewesen, wenn die Behandlung gegen den erklärten Willen des Patienten verstoßen hätte. Eine solche Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stünde der grundsätzlichen Schutzpflicht des Staates für das Leben entgegen. Das Bundesverfassungsgericht stellte damit klar, dass in Fällen, in denen der Patient_innenwille – etwa vorab in einer Patientenverfügung formuliert – missachtet wird, wenngleich posthum wohl kein Anspruch auf Schmerzensgeld, wohl aber auf Ersatz von wirtschaftlichen Belastungen durchsetzbar ist. Sein einschlägiger Beschluss (1 BvR 1187/19) lautet: „So können Kosten der Pflege, Behandlung und Unterhalt ersatzpflichtig sein, wenn sie ohne eine lebensverlängernde Behandlung, Information oder Aufklärung, die sich als fehlerhaft erweisen, nicht entstanden wären.“
Diese Aussicht kann – als mögliche Forderung gegenüber Ärzt_innen als auch Pflegeheimen und Kliniken – zumindest für den Schutz durch eine wirksame Patientenverfügung als positiv bewertet werden.