Zwang zur Behandlung – Hilfe durch Zwang?
In unserem letzten Newsletter wurde die Fixierung von Psychiatriepatienten thematisiert. Nun hat der Ethikrat seine Stellungnahme zu Zwangsbehandlungen und Zwangsmaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe veröffentlicht.
Ein Urteil des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vom 24. Juli beinhaltet die Verpflichtung, für verfassungsgemäße Regelungen bei Fixierungen unter Wahrung der Menschenwürde von betroffenen Psychiatriepatienten zu sorgen.
Die Schlussfolgerung im letzten Newsletter lautete: „Alle Bundesländer sind aufgerufen, bei der ohnehin bestehenden Freiheitsentziehung durch Zwangseinweisung in die Psychiatrie diese so auszustatten, dass dort zumindest dieses Mindestmaß an Menschenwürde untergebrachter Patienten gewährleistet werden kann.“
Sollen Menschen vor sich selbst geschützt werden müssen? Ob und wann Zwang erlaubt oder gar geboten ist, löst in der medizinischen Versorgung und auch in Einrichtungen der Altenpflege, Behinderten- sowie Kinder- und Jugendhilfe immer wieder Diskussionen aus.
Dazu hat der Deutsche Ethikrat am 1. November eine gut 250 Seiten umfassende Stellungnahme „Hilfe durch Zwang“ herausgegeben (ohne Gegenstimmen verabschiedet). Zu Wort kamen auch Betroffene, die Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie oder Jugendhilfe erleiden mussten – wie ein Mädchen, das ohne jede Aufklärung von den Eltern getrennt und zu einer Einrichtung gefahren wurde.
„Beharrliche Überzeugungsarbeit“ gegen Behandlungsverweigerung?
Der Rat hat versucht, die Hürden für Zwangsmaßnahmen hoch zu legen, weil es um schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht betroffener Personen (der Ethikrat spricht von Betreuten oder Patient_innen auch als „Sorgeempfänger“) geht. Zwang dürfe nur in Situationen angewendet werden, in denen Patient_innen beziehungsweise Bewohner_innen in ihrer Selbstbestimmung so stark eingeschränkt sind, dass sie keine freiverantwortliche Entscheidung mehr treffen können. Unklar bleibt dabei, wie und von wem eine noch hinreichende Selbstbestimmungs- und Beurteilungsfähigkeit zu bestimmen ist.
Vorrang hat laut Ethikrat eine „beharrliche Überzeugungsarbeit“, falls eine betreute Person erforderliche medizinische Maßnahmen ablehnt. Dagegen sei der Wille einer_s selbstbestimmungsfähigen Patient_in auch dann zu respektieren, wenn „erhebliche Risiken für Leib und Leben drohen“. Letzteres ist allerdings eine Selbstverständlichkeit. Bemerkenswert ist an der Stellungnahme die Forderung an die Praxis: Bei der sorgfältigen „Abwägung der Vor- und Nachteile einer Zwangsmaßnahme muss stets auch die Möglichkeit sekundärer Schäden etwa in Form von Demütigung, Traumatisierung oder Vertrauensverlust berücksichtigt werden.“
Allerdings sollte eine geforderte „beharrliche Überzeugungsarbeit“, um Zwangsmaßnahmen abzuwenden, den Mitarbeiter_innen in solchen Einrichtungen nicht fremd sein. Unterstützung bedarf es vielmehr bei der Beurteilung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung – dabei bleibt in der Regel kaum Zeit für ethische Diskurse und Reflexionen.